Das Rasseln der Sprache

Zurück in die Vergangenheit und nach vorne in die Zukunft schaut Reinhard Jirgl in seinem neuen Roman. Und er sieht Abgründe allenthalben, Rettung jedoch allein in der Kunst.

Nico Bleutge
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Wo hört die Vergangenheit auf? Gibt es eine Gegenwart? Reinhard Jirgls Roman weiss keine Antworten. (Bild: Thomas Peter / Reuters)

Wo hört die Vergangenheit auf? Gibt es eine Gegenwart? Reinhard Jirgls Roman weiss keine Antworten. (Bild: Thomas Peter / Reuters)

«Wa-bummp – Wa-bummp» – mit dem lauten Schlagen eines Herzens beginnt dieser Roman. Aber es könnte ebenso gut ein Presslufthammer sein, der die Geräusche von sich gibt, ein fortwährend zuckendes, «stampfendes Herz» in den Häuserschluchten einer Stadt. Und tatsächlich sind wir am Ende des Buches in der Atmosphäre einer Metropole aus der Zukunft: Betriebe und Fabriken leuchten auf, Kaufhäuser und Hochbahntrassees, die zu nichts einladen als Konsum. Oder in Reinhard Jirgls Worten: in «Dergrossstadtmasse», wo ein Rufen und Lärmen wie in kommunizierenden Gefässen hochsteigt in die betriebsam aufgewühlte Luft.

Wer mit Reinhard Jirgl in den Roman geht, der betritt ein vielfach aufgeladenes Gelände. Hier ist keine Stimme unvermittelt zu haben, und kein Bild schiebt sich direkt vor die Augen. Vielmehr treffen wir auf brüchige Landschaften und auf die trickreiche Sprache der Strasse, wir treffen auf Wörter, die in mehrere Bedeutungsstränge spleissen, und auf die Schichten der Vergangenheit, die sich endlos überlagern. Manchmal sind es nur kleine Verschiebungen, die dafür sorgen, dass die Dinge plötzlich auf dem Kopf stehen.

Blicke in die Zukunft

In seinem neuen Roman ist es die DDR, der Jirgl nachtastet. Jener Staat, in dem er selbst sein halbes Leben verbracht, unter dessen Strukturen er bis zuletzt gelitten hat – und den er schon in so vielen seiner Romane seziert hat. Wieder unternimmt Jirgl den Versuch, die einzelne Geschichte und die grosse geschichtliche Perspektive, den Sinn für Details und das Bewusstsein für Deutungen miteinander zu verschränken. Doch zugleich geht der Blick in die Zukunft, so bindet Jirgl das neue Buch an seinen zuletzt erschienenen Roman «Nichts von euch auf Erden» (2013), eine gewaltige Dystopie, deren Sphären von Grausamkeit bestimmt sind, von Unterdrückung und von Krieg.

Nicht weniger kalt als die zukünftige Welt auf Erde und Mars ist die Atmosphäre in Jirgls DDR. In mehreren Anläufen entwirft der Büchnerpreisträger eine zerklüftete Familiengeschichte um die Geschwister Theresa und Willfried, ihre leiblichen Eltern Irma und Alois und Theresas Adoptiveltern Martha und Paul – in einer Ahnentafel finden wir sie am Ende des Buches allesamt aufgereiht. Nach und nach zeigt Jirgl, wie sehr die Figuren von den Verwerfungen deutsch-deutscher Geschichte betroffen sind. Enteignung und Zwangsumsiedlung, Stasi- und Funktionärsgeflechte, Verrat, Gefängnis und staatlich oktroyierter Mord. Theresa etwa verliert ihre wissenschaftliche Stelle und landet wortwörtlich im Dreck, weil sie bei ihren Recherchen Materialien zu einem streng geheimen Weltallprojekt entdeckt hat. Ihr Bruder Willfried wiederum, «das-kriminelle-Kind», wird von einer Organisation namens «Kommerzielle Zersetzung der Opposition» angeworben, einer vom Staat geschaffenen Mörderfirma gleichsam.

Zwischen all diesen inhaltlichen und narrativen Fäden versucht ein Polizist zu vermitteln. Es ist ein aus Hannover stammender Kommissar, der nach dreissig Jahren Dienst in der Mordkommission seine Ängste immer weniger kontrollieren kann. Im Revier am Berliner Alexanderplatz geht er im Jahr 2012 gemeinsam mit seinem Kollegen Möller einer Mordserie nach, die ihn zu Theresas Familie führt. In seinem Inneren darauf bedacht, die Staaten von ihren Verbrechen her zu verstehen, will er die gefundenen Bruchstücke prüfen und ordnen. Sie womöglich zusammenzufügen, gelingt ihm nicht, aber er kommt staatlichen Machenschaften auf die Spur, die mit dem Freikauf von DDR-Bürgern durch die BRD zu tun haben – und von denen sich Verbindungslinien zu Theresas wissenschaftlicher Arbeit ziehen lassen.

«Nurstille Wohlgerüche & Keingeschrei», lesen wir einmal, «unsichtbar alle Tode, verwandelt zu elektronischen Signalen, pulsend Ohnepause durch pralle Bündel Glasfaserarterien im Grossennetzwerk des hygienischen Weltdauerfriedens». Hier formt Jirgl Ideen erzählerisch aus, die er schon vor zwanzig Jahren in einem kleinen Aufsatz aufgefaltet hat. Den Vorstellungen eines einlullenden digitalen Friedens stellen Jirgls Figuren nun die Idee an die Seite, das Heute sei nichts anderes als ein verlängertes Gestern. Genauer: Der Sozialismus übernimmt die Strukturen des «Dritten Reiches» und gibt sie nach seinem Ende als das Versprechen auf Demokratie und Freiheit weiter. Die Götter wechseln, aber Unterdrückung bleibt. Vor diesem Hintergrund ist es fast folgerichtig, dass die Zeit nach 1989 nicht «Wende» heisst, sondern die Bezeichnung «GeBeU» trägt, «Grosser-Bürokratischer-Umbau».

Gleichwohl ist Jirgls Buch kein Thesenroman. Von der «Eingeweidesympathie» hat er in seiner Büchnerpreisrede geschrieben, von einer Kunst, die den ganzen Organismus befeuern müsse, das Herz, das Hirn, die Nervenstränge und die Zellen. Ein gemeinschaftliches Empfinden, das plötzlich kommt und jedem Denken, jeder analytischen Wahrnehmung vorausliegt. Allerdings ist dieses Empfinden erst in einem zweiten Schritt zu haben. Der Leser muss gleichsam durch die Form, durch die Konstruktion des Romans hindurchgehen. Erst die geschichteten Stimmen, erst die Sprache und der Bau können die Sinnlichkeit freisetzen. Deshalb die bald umgangssprachlich, bald expressionistisch angehauchten Bilder. Deshalb die zerhackten oder neu zusammengesetzten Wörter. So schafft Jirgl seine «fauchende rasselnde» Sprache, eine bis auf die Knochen dringende Diktion des Sinnlichen, des Körpers.

Mehrstimmige Komposition

Und der Bau? Der Klappentext verweist auf das «Orakel I-Ging», um die Struktur des Romans zu erklären. Vielleicht genügt auch der Hinweis, dass Jirgl durchwegs unterschiedliche Perspektiven ineinanderschneidet. (Sind es sechs Stimmen? Oder doch sieben, acht, neun?) Stimmen in den Untiefen der Geschichte, auf der Suche nach Erinnerung. Manchmal sind diese Stimmen so eng gesetzt, dass man erst nach einer kleinen Strecke des Lesens merkt, wie oft die Perspektive gewechselt hat.

Ein Überblenden rasselnder, durch Raum und Zeit springender, durchwegs pessimistischer Töne bestimmt den Roman, voller Störmomente und harter Klänge. So ergeht es einem als Leser am Ende selbst wie einer der Figuren: «unversehens wie Treibgut hin1gestossen . . . in Stromschnellen eines & anderer Menschen Lebensstrom». Etwas forciert wirkt einzig der Versuch, in der Erzählung des indonesischen Diplomatensohns Orfan Batt zugleich die gegenwärtigen Fluchtgeschichten einzuholen: «Flüchtlinge sollen Flüchtlinge bleiben, niemand will sie bei=sich haben.» – Dunkler war eine DDR-Geschichte selten. Aber auch selten vielstimmiger und näher am Rhythmus eines stampfenden Herzens.

Reinhard Jirgl: Oben das Feuer, unten der Berg. Roman. Carl-Hanser-Verlag, München 2016. 284 S., Fr. 33.90.