Gegen Mythopolitik und Ethnokratie

Micha Brumliks Plädoyer für eine konstitutionelle Utopie

Von Irmela von der LüheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Irmela von der Lühe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als „Versuch über die Gegenwart des Judentums“ hat Micha Brumlik, soeben mit der Buber- Rosenzweig-Medaille der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit ausgezeichnet, seine Essaysammlung bezeichnet, die im Haupttitel die Frage aus den talmudischen „Sprüchen der Väter“ aufnimmt: „Wann, wenn nicht jetzt?“ Tatsächlich geht es in den sieben sachlich und systematisch klug miteinander verknüpften Aufsätzen gleichermaßen um aktuelle politische wie historisch-kulturgeschichtliche als auch philosophisch-theoretische Fragen. Sie alle kreisen im Sinne der talmudischen Aufforderung um radikale Selbstbefragung, um jüdische Selbstbesinnung als Reflexion vergangener Erfahrungen und gegenwärtiger Erlebnisse, historischer Erkenntnisse und aktueller Herausforderungen. Vergangenheit und Gegenwart der Diaspora, des Zionismus und des Messianismus spielen eine ebenso wichtige Rolle, wie das Verhältnis zwischen Israel und Deutschland, zwischen Israel und den Juden in der amerikanischen Diaspora. Analyse und Argumentation prägen die Darstellungen, und doch spürt man immer wieder, wovon auch in einem eigenen Abschnitt ausführlich die Rede ist: „Resignation und Einsicht“. Eine melancholische Präzision durchzieht den Text, dessen Ton erstaunt und berührt; dessen analytische Kraft unüberhörbar, dessen rational-realistischer Ursprung zweifelsfrei und dessen klarsichtige Hoffnung stets gegenwärtig ist.

Es ist keine Abrechnung mit dem zionistischen Projekt, so hart und entschieden die Kritik an der Besatzungspolitik Israels im Allgemeinen und an Benjamin Netanyahus Handeln im Besonderen auch ausfällt. Mit „Israel und die Diaspora: Die aktuelle Krise“ ist denn auch das erste Kapitel überschrieben, das von der Wiederwahl Netanyahus im Jahre 2015 – zugleich das vierte Jahr des syrischen Bürgerkriegs – ausgehend, den Gründen und Hintergründen für die wachsende „Entfremdung“ zwischen dem amerikanischen Judentum und dem Staat Israel nachgeht. Gewährsmann für die dabei referierten Sachverhalte ist der orthodoxe Politikwissenschaftler Peter Beinart, dessen im Jahr 2013 auch auf Deutsch erschienene Studie „Die amerikanischen Juden und Israel“ die völker- und menschenrechtswidrige Siedlungs-und Außenpolitik der Netanjahu-Regierungen detailreich belegt und zugleich die Gefolgschaftstreue der großen jüdisch-amerikanischen Organisationen kritisch in Frage stellt. Gestützt auf Beinarts Befunde rekonstruiert Brumlik eine paradoxe und zugleich höchst brisante Konstellation: Während Netanjahu in den Spuren seines Vaters und damit in direkter Nachfolge von Waldimir Jabotinsky (1880–1940) alle Anstrengungen unternimmt, einen palästinensischen Staat zu verhindern, orientiert sich Barack Obama an den Grundsätzen des jüdischen Philosophen und Bürgerrechtlers Abraham Joschua Heschel (1907–1972). Das Scheitern des Friedensprozesses erwächst in einer solchen Sicht auch aus einem inneren Antagonismus im zionistischen Konzept selbst und führt zu einen wachsenden Dissens zwischen der israelischen Regierung und dem modern-orthodoxen Judentum in der amerikanischen Diaspora. An Peter Beinarts, aber auch an Positionen wie denjenigen der jüdisch-französischen Historikerin Esther Benbassa stellt Micha Brumlik jene existenziell-politische Ambivalenz heraus, die sich in Sätzen wie „Ich will nicht Jüdin sein und Israel ablehnen. Ich will auch nicht Jüdin sein und Israels unmoralischen Krieg billigen. Nicht ohne Israel und nicht mit Israel, so wie es heute ist“ äußert.

Solche Sätze spiegeln – so lernt man in diesem, aber auch in weiteren Essays des Bandes – eben jenes prophetische Erbe, nach dem die Juden als Volk entstanden seien, um eine bestimmte Mission in der Welt zu erfüllen; einem Verrat an dieser Mission aber komme es gleich, Nachbarn und fremde Völker als minderwertig zu behandeln. Am Widerspiel zwischen einem ethisch-religiösen Universalismus und einem ethnisch-orthodoxen Partikularismus werden die Verwerfungen in der politischen Gegenwart des Staates Israel nachvollziehbar. Die kontroversen Reaktionen  in der jüdischen Diaspora sowie die darin wirksamen religions-und ideengeschichtlichen Traditionen finden ihren Niederschlag auch im akademischen Raum: in Gestalt einer sich ausdifferenzierenden Diaspora-Forschung und eines nicht minder ausdifferenzierten Spektrums „Jüdischer Studien“. Die leitmotivisch wiederholte und an immer neuen Details belegte Grundthese des Buches, dass nämlich „Judentum auch heute eine widersprüchliche Einheit darstellt“, wird somit sowohl für den politischen als auch für den akademischen Raum greifbar. Angesichts der Tatsache, dass heute im jüdischen Nationalstaat nur knapp 50 Prozent aller Juden leben und die amerikanisch-jüdische Diaspora annähernd gleich groß ist, erweist sich die Diskussion über das Verhältnis zwischen Zentrum (Israel) und Peripherie (Diaspora) oder über ein „eigentliches“ und ein „uneigentliches“ Judentum keineswegs als eine abstrakt akademische.

Dem spannungsreichen Verhältnis zwischen dem Land Israel und dem Zionismus geht daher das zweite Kapitel nach, in dem auf der Grundlage der entsprechenden Texte der Mischna und der Gemara gezeigt wird, dass „den Rabbinen sowohl in Galiläa als auch in Babylon klar [war], dass das messianische Streben nach Eigenstaatlichkeit nur ins Verderben führen kann“. Kaum weniger brisant ist die daran anknüpfende Frage, ob und, wenn ja, wie der moderne, staatsbegründende Messianismus sich aus der mystischen Tradition philosophisch begründen ließ. Der aschkenasische Oberrabiner Rav Abraham Isaac Kook (1865–1935), dessen Denken einerseits einem spätromantischen Volksbegriff, zugleich aber dem Hegel’schen Entwicklungsbegriff verpflichtet war, liefert dafür den entscheidenden Beleg. Ausführlich rekonstruiert Brumlik Rav Kooks Positionen und erörtert zugleich, ob und in welcher Weise Kooks Ideen für den Fundamentalismus der Siedler im Westjordanland wirksam wurden und  die Auseinandersetzungen um eine entweder rein „profane“ oder doch „heilige“ Mission des Judentums stimulierten.

Als Antipode zu Rav Kook mit ebenfalls weitreichender Wirkung erscheint Wladimir Jabotinsky (1880–1940), als dessen Sekretär Netanjahus Vater gearbeitet hat. Micha Brumlik zeichnet von Jobotinsky das Bild einer schillernden Gestalt, bescheinigt dem 1880 in Odessa geborenen und 1940 In den USA verstorbenen Querdenker indes „aufrichtigen Realismus“. Mehrsprachig aufgewachsen hatte er als Journalist und Schriftseller begonnen; seine 1927 und 1935 veröffentlichten Romane („Richter und Narr“,  „Die Fünf“) sind in den Jahren 2012 und 2013 erstmals auf Deutsch erschienen. Ursprünglich hatte sich Jabotinsky sozialistischen Ideen verschrieben, unter dem Eindruck der Pogrome von 1903 war er zum glühenden Zionisten und schließlich zu einem „kosmopolitischen Ultra-Nationalisten“ geworden. Ein Rebell und ein Staatsmann, ein Kämpfer und ein Prophet, der die mit dem Nationalsozialismus drohende Vernichtung der (ost-)europäischen Juden früh gesehen und lange vor dem deutschen Überfall auf Polen vergeblich bei den Regierungen Polens, Ungarns und Rumäniens für einen Evakuierungsplan, also für die Massenauswanderung europäischer Juden nach Palästina geworben hatte. Auf allen Seiten stieß dieser Vorschlag auf Ablehnung. Den Zionismus nannte Jabotinsky gelegentlich seicht und ohnmächtig, von seinen Gegnern musste er sich den Vorwurf des Faschismus gefallen lassen; Ben Gurion, sein engster Feind, verweigerte die Überführung seiner sterblichen Überreste nach Israel. Prägnant kontrastiert Brumlik die radikal gegensätzlichen Positionen Jabotinskys und Rav Kooks, zeigt also auch in diesem Falle die heterogene Einheit im historischen Denken über modernes Judentum und den Staat Israel.

In welchen moralphilosophischen, geschichtstheoretischen und damit argumentativen Notstand man gerät, wenn aus universalistischer Perspektive der öffentliche Intellektuelle zur Stellungnahme gegen die israelische Politik gegenüber den Palästinensern aufgefordert wird, dafür findet sich im fünften Abschnitt („Moral nach der Shoah: Deutschland und Israel“) ein aktuelles Beispiel. Es geht um die Debatte zwischen Jürgen Habermas, Micha Brumlik selbst und dem jungen israelischen Philosophen Omri Boehm, der im März 2015 in der „New York Times“ „The German Silence in Israel and its Costs“ angeprangert und im Rekurs auf Immanuel Kants Aufklärungsschrift und seine definitorischen Implikationen für eine öffentliche Kritik an der völker- und menschenrechtswidrigen Politik der Netanjahu-Regierung plädiert hatte. Die minutiöse Rekonstruktion von Argumenten und Gegenargumenten, von bis ins Aporetische reichenden Positionsnahmen gerade unter deutschen Intellektuellen, liest sich streckenweise selbst wie ein Lehrstück in aufklärerischer Absicht und sie endet im vollen Wortsinne des titelgebenden Zitats aus den „Sprüche(n) der Väter“ als Plädoyer für eine „Selbstvergewisserung des Judentums“ und zugleich für eine „Selbstvergewisserung der politischen Kultur in Deutschland“. In beiderlei Hinsicht lässt sich daher auch der im folgenden Abschnitt entwickelte „Plan B“ verstehen. Im Rückgriff auf Martin Bubers und Jabotinskys Ideen für einen binationalen Staat in Palästina/Israel konstatiert Micha Brumlik: „Es ist an der Zeit, dass die Freunde Israels endlich aus dem leerlaufenden Traum der Zweistaatenlösung erwachen. Das wäre der internationalen, zumal der deutschen Politik allemal zu wünschen.“

Diese zwischen Resignation und Realitätssinn situierte Feststellung führt den Autor zu den Überlegungen Gershom Gorenbergs, eines orthodoxen Juden und bekennenden Zionisten, dessen im Jahre 2011 erschienenes Buch „The Unmaking of Israel“ die desaströsen Folgen der Besatzungs- und Siedlerpolitik und damit die Transformation des zionistischen Projekts in eine „Ethnokratie“ detailliert beschreibt. Gorenberg begegnet dieser nicht nur in seinen Augen verhängnisvollen Entwicklung mit der Forderung nach einer ‚Neugründung  Israels‘ – womit ein Ende des Siedlungsbaus und die radikale Trennung von Staat und Synagoge gemeint sind, also die Rückkehr zu jenem zionistischen Projekt, das den „jüdischen“ Staat universalistisch und nicht ethnisch-partikular gedacht hatte. Mit Martin Buber spricht Micha Brumlik in diesem Zusammenhang von „Pfaden in Utopia“, lässt andererseits aber keinen Zweifel daran, dass die von jüdischen Israelis entwickelten Konzepte bei der derzeitigen politischen Gesamtlage kaum Gehör finden dürften. Und doch gelte es, das „Undenkbare zu denken“. Dem Vorschlag einer Föderalisierung des Nahen Ostens, den der Historiker Michael Wolffsohn im Jahre 2012 gemacht hat, kommt in diesem Zusammenhang eine nicht unerhebliche Bedeutung zu. Wiewohl Brumlik ihn nicht für tatsächlich „zukunftstauglich“ hält, liefert er ihm den Ausgangspunkt für die Skizze einer „konstitutionellen Utopie“, eines Föderationsmodells, das freilich allen Beteiligten enorme Vertrauens-und Verzichtsleitungen abverlangen würde. Wie viel Selbstbesinnung und wie viel Realitätssinn in diesen ebenso konkreten wie skeptisch-hoffenden Überlegungen stecken, das vermitteln die Ausführungen zum „Plan B“ auf einprägsame Weise. Ihr einprägsamer Duktus erweitert sich noch einmal durch einen sehr persönlich gehaltenen letzten Abschnitt („Diaspora Deutschland“). Am Schwielowsee und begleitet von Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ lässt der Autor den Leser an Reflexionen und Emotionen teilhaben, die ihn während der Rede Netanjahus vor dem Amerikanischen Kongress im März 2015 buchstäblich überwältigen. Der beeindruckend belesene (religions-)philosophische Kommentator, der (real-)politische Theoretiker, der jüdische Intellektuelle in der Diaspora Deutschland zeigt sich damit am Ende dieser Essayserie als ein (autobiografischer) Erzähler, der sich der talmudischen Aufforderung („Wann, wenn nicht jetzt?“) auch ganz persönlich stellt.

Titelbild

Micha Brumlik: Wann, wenn nicht jetzt? Versuch über die Gegenwart des Judentums.
Neofelis Verlag, Berlin 2015.
132 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783958080324

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