Wenn in Büchern Gegenwärtigkeit ausgemacht werden kann, beginnt das große Hyperventilieren der Literaturkritik. Jüngstes Phänomen sind jene unter dem Schlagwort New Sincerity verbuchten Autoren und Autorinnen wie Mira Gonzalez, Tao Lin oder Marie Calloway. Erwähnt seien diese auf kalkulierte Entblößung, behaupteten Weltschmerz und sexuellen Überdruss setzenden Autoren an dieser Stelle allein um der Abgrenzung willen: Damit niemand auf die Idee kommt, die Texte von Kate Tempest, der 1985 in London geborenen Rapperin, Lyrikerin, Theater- und Romanautorin, befänden sich auch nur in die Nähe dieses ausgestellten, vermeintlich provokanten Narzissmus.

Gleich zwei Bücher sind von Tempest nun hierzulande erschienen, der Roman Worauf du dich verlassen kannst und der zweisprachige Lyrikband Hold Your Own: zwei Verdichtungen schmerzvoller, aber auch vor Lust pulsierender Emanzipationsprozesse.

Larmoyanz sucht man sowohl im Roman wie auch in den Gedichten vergebens. Genauso wie schmallippige Ideologie, die man angesichts des Themas vermuten könnte. Die Gedichte büßen in Papierform beinahe nichts von der Energie und dem Rhythmus ein, derentwegen auch Tempests Auftritte als Musikerin so lange im Kopf und im Körper nachwirken.

Hold Your Own ist ein fünfteiliger Zyklus, ein Gesang für die Freiheit, der zwischen verschiedenen Sprechweisen wechselt. Mal ist er von spannungsgeladener Dringlichkeit, mal pragmatisch: "Sensible Menschen werden oft von Dingen umgehauen, die unsensible Menschen / nicht sehen können. / Wenn du umgehauen wurdest, gut für dich. / Wenn du nie umgehauen wurdest, gut für dich.
 / Wenn du ständig umgehauen wirst, solltest du anfangen zu boxen."

Emanzipation meint bei Tempest nun nicht nur die (klassische) weibliche, sondern in einem emphatischen und offenen Sinne die des Individuums, besonders die desjenigen, das sich in das Muster der tradierten, sozial konnotierten Geschlechtszuschreibungen nicht einfügen kann.

Für ihren Gedichtband hat Tempest deshalb eine mythologische Figur gewählt, die häufig direkt angesprochen wird. Teiresias, von Hera zur Blindheit verdammt, gilt nicht nur als Seher, sondern verkörpert die geschlechtliche Ambivalenz, kann sich von Mann in Frau und zurück verwandeln. Er wird in den Gedichten zu einer Art Schirmherr (oder –frau): "Während wir im Netz Identitäten sammeln / Und in unsre Smartphones glotzen, / Bist du strahlend hell und furchteinflößend, / Atem, Fleisch und Knochen. Teiresias – du lehrst uns,/ was es heißt: sich zu behaupten."

Ein Befreiungsschlag ins Jetzt

Tempest verwebt den mythologischen Stoff mit der Gegenwart. Sie lässt das universell Anthropologische das Heute grundieren. Oder anders: Die Gegenwart bricht mit Macht durch die Schichten der Vergangenheit hindurch, verschafft sich Raum und Gehör. Dass diese Befreiung von Zuschreibungen und die Freiheit des Begehrens, die Tempest sich erschreibt, noch immer fragil und gefährdet ist, zeigt nicht nur ein Blick in Länder wie Russland oder die Türkei. Das Attentat von Orlando lässt den politischen Gehalt von Tempests Gedichten auf erschreckende Weise deutlich werden. 

Die sexuelle Initiation, die Tempest verdichtet, ist mal von nahezu brachialen Neugeburten im anderen Geschlecht begleitet. Mal sind es leise, zarte Liebesgedichte. Aber so offenherzig das eigene Begehren auch beschrieben wird, so diskret sind Tempest Gedichte zugleich. Die intime Nähe gerät nicht zur Fleischbeschau. Die Körper schützen sich durch feingewebte Sprachkleider. Hold Your Own ist das Gegenteil der unverständlicherweise so oft bejubelten Schlüssellochliteratur.

Die Figur des Teiresias ist verschiedentlich in der Literatur aufgegriffen worden. So auch von T. S. Eliot. Nicht von ungefähr lässt die Poesie von Tempest vor allem an Eliots Langgedicht The Waste Land denken, mit dem er 1922 die Moderne in der englischsprachigen Literatur ausrief und das schnell zu einer Art Kultpoem wurde. Tempest teilt mit Eliot die Verbindung von subjektivem Empfinden und aktueller gesellschaftlicher Perspektive. Tempest erkundet ihre eigene mentale Verfasstheit im Sprechen. Und in ihren poetischen Schnappschüssen aus dem London unserer Tage stolpern die Bewohner durch eine mehr emotional als finanziell prekäre Zeit.

"The great knockout up to date" schrieb der Kritiker Edmond Wilson über Eliots The Waste Land – ein großartiger Befreiungsschlag ins Jetzt. Eben dies ließe sich auch über Tempests Ästhetik sagen: Immer wieder aufs Neue erzeugen diese Gedichte eine plötzliche, alle Sinne stimulierende Unmittelbarkeit, sowohl ästhetisch wie inhaltlich.

Auch wenn die Emanzipation, die Selbstbehauptung, die Kate Tempest sich sprechend erarbeitet, eine geschlechtsübergreifende ist, fehlt ihr nicht der Blick auf die sozial bedingten Nachteile, die Frauenbiografien ereilen können. Was in den Gedichten an verschiedenen Stellen aufblitzt, wird im Roman anhand verschiedener Frauenfiguren erzählt.

In der ersten Szene des Romans Worauf du dich verlassen kannst wohnen wir der atemlosen Flucht von Becky, Harry und Leon aus London bei, einer Stadt, die sich mit all ihren Ausdünstungen, ihren Bewohnern, ihren Sehnsüchten und Versehrtheiten in die drei eingeschrieben hat. Wasted, verwüstet oder auch, wie es in einer neueren Übertragung von Eliot heißt: öde sind diese Stadtlandschaft und das Dasein, das man in ihr fristet. "Es steckt ihnen in den Knochen. Brot, Alkohol, Beton. Wie schön, das alles. All die kleinen Augenblicke flattern auf. Prediger, Eltern, Arbeiter. Romantiker mit leerem Blick und ohne Perspektive. Die Straßenlaternen und der Verkehr, die Toten, die begraben, und die Babys, die gezeugt werden müssen. Ein Job. Nur ein Job."