Der Büchner-Preis galt immer als der wichtigste und
prestigeträchtigste deutsche Literaturpreis, aber jetzt ist etwas in Bewegung
geraten. In den vergangenen zwanzig Jahren hörte man nach den Preisverleihungen ja öfter
ein schmerzhaftes Aufstöhnen im Feuilleton, und in den Kommentaren gab es jedes
Mal differierende Namenslisten, wer stattdessen den Preis hätte bekommen
sollen.
Im letzten Jahr war das mit Rainald Goetz zum ersten Mal anders. Da jubelte das gesamte Feuilleton: Das ist einer von uns! Der Büchner-Preis hatte sich mit Rainald Goetz dem allgemeinen Diskurs in der medialen Öffentlichkeit unmittelbar angeschlossen, und so etwas könnte manchmal auch ein Nachteil sein. Aber es ist auf jeden Fall das forcierte Bestreben der Jury deutlich, den Kandidaten nicht in einer Art akademischer Selbstbezüglichkeit zu präsentieren, sondern mitten in die Gegenwart hinein zu sprechen. Mit Marcel Beyer hat man in diesem Jahr nun einen idealen Preisträger dafür gefunden. Er verbindet ein ausgeprägtes Bewusstsein für ästhetische Mittel, für Referenzgrößen und die Möglichkeiten literarischer Form mit einem taktgebenden zeitgenössischen Lebensgefühl.
Marcel Beyers Plattensammlung ist legendär, und es
dürfte auch unter den absoluten Popspezialisten kaum einen geben, der ihm in den
vielfachen Verästelungen der neueren Musikgeschichte bis in abseitigste
Regionen und Stile hinein etwas vormachen könnte. Beyer hat in den neunziger
Jahren für die Musikzeitschrift Spex gearbeitet, gleichzeitig aber auch in
Siegen seine Magisterarbeit über Friederike Mayröcker geschrieben, sich also
mit Fantasieschwüngen des Wortmaterials, mit konkreter Poesie und dem
Hineinhorchen in Sentenzen auseinandergesetzt. Sein Debütroman Das
Menschenfleisch von 1991 war ein zu diesem Zeitpunkt durchaus
aufsehenerregendes pop-avantgardistisches Manifest: Er bestand aus Sampling und
Scratching, eine lustvolle Collage von Zitaten, die sich offenkundig einer
poststrukturalistischen Ästhetik verpflichtet sah und in theoretischen
Begriffsschüben geheime Tendenzen zur Primärliteratur freilegte.
Elektronische Aufzeichnungsmedien
Mit dem Roman Flughunde von 1995 hatte Beyer dann einen überragenden Erfolg. Er wurde breit diskutiert. Das Feld der deutschen Vergangenheit, namentlich des Nationalsozialismus, hat Beyer immer wieder beschäftigt. In Flughunde verband er die monströse Geschichte um die Tötung der Goebbels-Kinder mit einer Reflexion der elektronischen Aufzeichnungsmedien, und hier schloss sich Beyer nahtlos an die damals virulenten Denkbewegungen eines Friedrich Kittler an. In der Geschichtswissenschaft griff man erst zehn, fünfzehn Jahre später mit einem audiovisuellen turn das auf, was Beyer in Flughunde unternommen hatte: elektromagnetische Aufzeichnungen als ausschlaggebende Geschichtsquelle anzusehen. Mit Spione (2000) und Kaltenburg (2008) setzte Beyer seine Exkursionen ins deutsche Geschichtsgelände fort, immer mit einem sensiblen Gespür für die Verbindungen zwischen Vergangenheit und unmittelbarer Gegenwart.
Beyer schaltet sich durchaus in aktuelle Auseinandersetzungen ein, so reagiert der in Dresden ansässige, aber im Rheinland sozialisierte Dichter zwangsläufig auf die Pegida-Problematik. Und in seinen Lichtenberg-Poetikvorlesungen in Göttingen thematisiert er auf beeindruckende Weise den Elke-Heidenreich-Skandal in der Schweizer Fernsehsendung Buchclub, als sie ein falsches Heidegger-Zitat erfand, und wirft so ein prägnantes Schlaglicht auf den aktuellen Literatur- und Medienbetrieb. Vor einem solchen Hintergrund ist auch sein herausragender Gedichtband graphit aus dem Jahr 2014 als ein gewaltiges Geschichts- und Gegenwartspanorama zu lesen.
Kulturarchäologische Suchbewegungen
Ein Musterbeispiel für seine kulturarchäologischen Suchbewegungen ist das
Gedicht Don Cosmic. Das bezieht sich zunächst auf einen Titel des legendären
jamaikanischen Posaunisten Don Drummond, der für den Höhepunkt des Ska-Musik in
den sechziger Jahren steht, in einem psychotischen Schub seine Geliebte in der
Neujahrsnacht 1965 ermordete und einige Jahre später im Gefängnis Selbstmord
verübte.
Don Cosmic lässt sich aber auch, und damit setzt das mehrteilige Gedicht im ersten Abschnitt virtuos ein, auf Gottfried Benns Briefpartner F.W. Oelze beziehen, dessen Bremer Handelshaus sich auf den Rum-Import aus Jamaika gründete. Wir sehen ihn im ersten Bild, wie er sich in die Hauptstadt Kingston versetzt, wo seine Mutter zu Welt kam und im Hintergrund ein Pianist auf den schwarzen Tasten improvisiert, über den Jazz-Standard Dinah. Diese Dinah versetzt den Kaufmann in Trance, in eine deutsche Trance der dreißiger Jahre: "Gebt Rillen, Höllenyards, gebt // uns den Groove, laßt endlich die ganze / Geschichte kippen, alles ins / Zwischenreich, alles in Moll."
Beyers Gedichte bestehen meist aus strengen
Blöcken mit drei oder vier Zeilen, die aber durch Binnenreime und rhythmische
Verweise aufgelockert werden und durch ihre Blue Notes bestechen, Akkorde, die
sich dem abendländischen Tonsatzsystem entziehen und die nicht nur global
agierenden Handelsmann F.W. Oelze aufputschten, sondern auch seinen Freund
Benn. Dieser pflegte ebenfalls seinen deutschen Rausch, träumte davon, die
Geschichte zu "kippen". Zum Schluss tritt er selbst ins Bild, in das eh
schon weit aufgefächerte, vielfarbige Licht- und Schattenensemble mit Oelze und
Don Drummond.
Der Büchner-Preis galt immer als der wichtigste und
prestigeträchtigste deutsche Literaturpreis, aber jetzt ist etwas in Bewegung
geraten. In den vergangenen zwanzig Jahren hörte man nach den Preisverleihungen ja öfter
ein schmerzhaftes Aufstöhnen im Feuilleton, und in den Kommentaren gab es jedes
Mal differierende Namenslisten, wer stattdessen den Preis hätte bekommen
sollen.
Im letzten Jahr war das mit Rainald Goetz zum ersten Mal anders. Da jubelte das gesamte Feuilleton: Das ist einer von uns! Der Büchner-Preis hatte sich mit Rainald Goetz dem allgemeinen Diskurs in der medialen Öffentlichkeit unmittelbar angeschlossen, und so etwas könnte manchmal auch ein Nachteil sein. Aber es ist auf jeden Fall das forcierte Bestreben der Jury deutlich, den Kandidaten nicht in einer Art akademischer Selbstbezüglichkeit zu präsentieren, sondern mitten in die Gegenwart hinein zu sprechen. Mit Marcel Beyer hat man in diesem Jahr nun einen idealen Preisträger dafür gefunden. Er verbindet ein ausgeprägtes Bewusstsein für ästhetische Mittel, für Referenzgrößen und die Möglichkeiten literarischer Form mit einem taktgebenden zeitgenössischen Lebensgefühl.