Sturz ins Bodenlose

Ein Unglücksfall lässt eine Familie auseinanderbrechen. Sandra Hughes erzählt diese Geschichte in ihrem Roman auf beklemmend nüchterne Weise.

Beatrice Eichmann-Leutenegger
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Was soll schon sein, wenn der fünfzehnjährige Sohn Luca nicht sofort vom Gang zum Bancomaten nach Hause zurückkehrt? Jan Gerber, der Vater, zerstreut die Bedenken seiner Frau Vera; sie aber macht sich mit jeder verstreichenden Viertelstunde grössere Sorgen. Als einige Zeit später die Polizei vor dem Haus der Familie Gerber steht, erfüllen sich die schlimmsten Vorahnungen. Luca brach vor dem Bancomaten zusammen, aber keiner der Geldbezüger kümmerte sich um ihn – erst der elfte rief die Polizei an. Seither ist Luca halbseitig gelähmt und der Sprache nicht mehr mächtig.

Sandra Hughes' Text umfasst ein Jahr: vom Juli 2013 bis zum Juni 2014. Mit stockendem Atem folgt man den Stadien von Lucas Krankheit in dieser Zeit. Der Klinik mit ihren Therapien schliesst sich ein Aufenthalt zu Hause an, aber da dieser die Beteiligten überfordert, wird Luca in eine Rehabilitationsinstitution überwiesen. Diese einschneidenden Veränderungen erschüttern das Familiengefüge. Erst glaubt man zwar, das Unglück habe vor allem Vera zugesetzt, die schon immer überängstlich den einzigen Sohn behütet hat und nun in eine Depression fällt. Jan dagegen wirkt seelisch robuster. Er beruhigt und tröstet, widerspricht jedoch zusehends heftiger, wenn Vera die Fortschritte von Luca übersieht.

Irgendwann entdeckt Jan das Fotoalbum aus Lucas Kindheit. Darin hat Vera in einem zerstörerischen Furor alle Bilder zerrissen. Kurz zuvor las sie den Entschuldigungsbrief jenes Mannes, der gleich nach Luca ebenfalls den Bancomaten aufgesucht hatte. Aufgrund einer üblen Erfahrung hatte er Luca als Trickdieb eingeschätzt, der eine Ohnmacht vortäuschte. Jan aber rennt, nachdem er die zerstörten Fotos entdeckt hat, buchstäblich mit dem Kopf gegen die Wand und verletzt sich. Angesichts des familiären Desasters sagt Luca erstmals laut und deutlich: «Ich will fort.»

Sandra Hughes erzählt ihren Roman mit grosser Disziplin. Novellistisch verknappt sie das Geschehen und verzichtet auf psychologisierende Kommentare. Gleichwohl erhellt sich überzeugend das Innenleben Veras, aus deren Perspektive die Ereignisse betrachtet werden.

Dabei zeigt sich exemplarisch, wie verschieden Menschen mit dem Unglück umgehen: Jan versucht, den bisherigen Lebens- und Arbeitsrhythmus aufrechtzuerhalten. Vera dagegen tritt den Rückzug an. Dabei entspräche ihre Tätigkeit als Restauratorin in gewisser Weise den Rehabilitationsbemühungen der Ärzte und Therapeuten. Hier wie dort nähert man sich dem Ziel nur in kleinsten Schritten. Zusehends entfremdet sich das Paar, und jeder stürzt in seine eigene Einsamkeit ab.

Sandra Hughes hat ihrem Roman den lapidaren Titel «Fallen» gegeben. Vielfältig fallen die Menschen in dieser Geschichte, und es ist keiner mehr in dieser Familie, «welcher dieses Fallen / unendlich sanft in seinen Händen hält», wie es noch bei Rilke hiess. Ausserhalb der Familie klaffen überdies die Abgründe einer teilnahmslosen Gesellschaft auf, in die so leicht einer stürzen kann. Die zehn Bancomat-Bezüger, die Jan liegen gelassen haben, werfen unangenehme Fragen auf; erst der elfte lässt von fern an den barmherzigen Samariter aus dem biblischen Gleichnis denken. Dies alles benennt Sandra Hughes nicht ausdrücklich. Ihre starke Geschichte indes vermag solche Assoziationen in Gang zu setzen.

Wie genau im Übrigen der Text komponiert ist, erkennt man an der Sprache der Hände am Anfang und am Schluss dieses Romans: Vera winkt zu Beginn, als Luca morgens mit dem Rad wegfährt; am Ende ruht die Hand von Veras Mutter auf dem Arm der Tochter. Es sind kleine Gesten, analog zu den kleinen Schritten in Lucas Genesungsprozess. Sie lassen Heilung erahnen, auch wenn die Bilder der einstmals intakten Familie neu zusammengesetzt werden müssen.

Sandra Hughes: Fallen. Roman. Dörlemann-Verlag, Zürich 2016. 160 S., Fr. 27.–.