Ein ziemliches Chaos

Mircea Cartarescu versteht sich nicht nur auf schwerblütige phantastische Romane, sondern auch auf (irr)witzige leichte Erzählungen. In «Die schönen Fremden» läuft er zu unterschiedlicher Form auf.

Nico Bleutge
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Am meisten Wirkung entfalten Mircea Cartarescus Erzählungen dann, wenn sie ironisch sind und voller Wendungen und selbstbezüglicher Sätze. (Bild: Leonhard Hilzensauer)

Am meisten Wirkung entfalten Mircea Cartarescus Erzählungen dann, wenn sie ironisch sind und voller Wendungen und selbstbezüglicher Sätze. (Bild: Leonhard Hilzensauer)

O tückenreiche Kunst der Übersetzung! Als der Erzähler einmal einen Beitrag an eine Zeitschrift schicken will, kann er das Manuskript nicht finden. Wie gut, dass der Text gerade auf Französisch erschienen ist. Also macht er sich daran, die Erzählung zurück in seine Sprache zu übersetzen. Doch plötzlich merkt er: Aus dem Original fehlen ganze Sätze. Dafür ziehen sich neue Passagen labyrinthisch durch den gesamten Text. «Zu meiner Verwunderung hatte ich am Ende meiner recht genauen Rückübersetzung eine andere Geschichte, etwas Phantastisches, das mein armer Geist nie zustande gebracht hätte.» – Der bekannte rumänische Schriftsteller Mircea Cartarescu hat ein Faible dafür, historische Ereignisse phantastisch anzureichern. Einerlei, ob es sich um seine Romane oder um seine Erzählungen handelt – die Texte schieben ganz unterschiedliche Sprach- und Wahrnehmungsschichten ineinander, verbinden eigene Erinnerungen mit allerlei literarischen Anspielungen und laden sie imaginativ auf.

Der verrückte Übersetzer

Auch in seinem neuen Erzählband verwirbelt Cartarescu die Vorstellungen und kommt darin einem verrückten Übersetzer durchaus nah. Das Buch ist im Original bereits 2010 erschienen, die Texte dürften zum Teil erheblich älter sein. Das Internet wird hier bisweilen als ein Ereignis gefeiert, und es gibt noch Handys jenseits der Smartphones. Ernest Wichner hat glücklicherweise weder Sätze ausgelassen noch neue Wendungen hinzugefügt, sondern Cartarescus voltenreiche Sprache geschickt im Deutschen eingeholt. Auch ist es eine schöne Idee, die Anmerkungen des Übersetzers als Fussnoten auf die Seiten zu nehmen. So entsteht ein hübscher selbstbezüglicher Effekt, der sehr gut zu Cartarescus postmodernem Schreiben passen will.

Leider greifen nicht alle Rädchen so glatt ineinander. Die Titelerzählung etwa ist nicht nur die bei weitem längste, sie ist auch die langweiligste in diesem Band. Cartarescu bereitet darin die Erlebnisse einer Lesereise durch Frankreich auf, zu der man ihn im Jahr 2004 gemeinsam mit elf anderen rumänischen Autoren eingeladen hatte. Das Vorbild ist unverkennbar David Foster Wallaces «Shipping out», ein Essay über eine Kreuzfahrt durch die Karibik. Wo Foster Wallace die touristischen Rituale und die Menschen auf dem Luxusschiff ironisch seziert, von der psychedelischen Fahrstuhlmusik bis zur abendlichen «Conga-Polonaise», versucht Cartarescu den literarischen Betrieb auseinanderzunehmen.

Doch all die Anekdoten über triste Hotelzimmer und schräge Lesungen, über Interviews und Dichterempfänge leben davon, dass der Erzähler sich von einem Gemeinplatz zum nächsten hangelt. So wie man den Schriftstellern auf ihrer Reise durch Frankreich die folkloristischen Klischees um die Ohren haut, beglückt der Erzähler seine Leser mit den immergleichen Geschichten über neidische Kollegen und ahnungslose Journalisten. «Und ich empfinde auch nicht das Bedürfnis, diese Sache endlos hinzuziehen», meint er an einer Stelle. Aber er irrt sich, denn genau das ist das Problem der Erzählung. Seite um Seite reiht er seine Erlebnisse aneinander, bis man sich als Leser wie einer jener «trägen Ballonfische» fühlt, denen der Erzähler auf einer Veranstaltung begegnet.

Anthrax-Hysterie

Wesentlich spannender ist das kleine Stück mit dem Titel «Anthrax». Darin bekommt der erzählende Schriftsteller einen Brief. «Why don't you sneeze?», steht in dicken Buchstaben auf dem Umschlag. Und er erklärt, warum ihn das beunruhigt: «Es war zur Zeit der Anthrax-Hysterie. Unbekannte Kriminelle hatten nach der Katastrophe vom 11. September Briefumschläge mit Anthrax ins Weisse Haus geschickt, ins Pentagon und an andere Orte auf der weiten Welt.» Und nun ein Brief, in dem sich auch noch eine Art Pulver erahnen lässt.

Für den Erzähler eine klare Sache – es muss sich um einen Anschlag handeln. Also nichts wie zur nächsten Polizeidienststelle. Oder besser: gleich zum Hauptsitz. Doch auf dem Revier erwartet ihn eine noch grössere Katastrophe als der vermeintliche Milzbrandbrief: eine Welt voller Kaffeetassen, «kafkamässiger Flure» und desorientierter Beamter.

«Wissen Sie, wir befinden uns hier in Umorganisation, es ist ein ziemliches Chaos», sagt einer der Polizisten. Ein Satz, der es in sich hat. Denn er meint nicht nur die Atmosphäre auf dem Revier. Es ist schön zu sehen, wie Cartarescu das Chaos der Verwaltung mit der Paranoia seines Erzählers verbindet – und beide Momente auf die Struktur der Geschichte abfärben.

Auf diese Weise entsteht ein ironischer Text voller Wendungen und selbstbezüglicher Sätze. Irgendwann betastet der Erzähler den Umschlag so leidenschaftlich, dass er an Aladin und seine Wunderlampe erinnert. Doch auch wenn am Ende kein Dschinn aus dem Brief entweicht – Mircea Cartarescu weiss daraus etwas hervorzuzaubern, das weit mehr überrascht als jede nacherzählte Lesereise.

Mircea Cartarescu: Die schönen Fremden. Erzählungen. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Zsolnay-Verlag, Wien 2016. 303 S., Fr. 31.90.