Polnisch-jüdischer Schriftsteller

Henryk Grynberg wird 80

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Der in den USA lebende polnische Schriftsteller Henryk Grynberg, fotografiert im Oktober 2000. © imago / Reinhard
Von Martin Sander · 01.07.2016
Henryk Grynberg gilt als eine der bedeutendsten Stimmen der polnisch-jüdischen Gegenwartsliteratur. Vor fast 50 Jahren emigrierte er in die USA aus Angst vor Antisemitismus im damals kommunistischen Polen. Am 4. Juli 2016 wird er 80 Jahre alt.
"Witam, tu Henryk!"
Henryk Grynberg meldet sich aus einem Rundfunkstudio in Washington. Am 4. Juli 1936 wurde er als Kind jüdischer Eltern in Warschau geboren. Am Montag also feiert der Schriftsteller seinen 80. Geburtstag in den USA. Dorthin hatte er sich 1967 abgesetzt – aus Furcht vor antisemitischen Stimmungen im kommunistischen Polen. Obwohl Grynberg nun seit fast 50 Jahren in den USA lebt, ist er der polnischen Sprache treu geblieben – jedenfalls in der Literatur. Die kreist autobiographisch um die großen Themen des 20. Jahrhunderts: den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust, den Alltag eines Überlebenden hinter dem "Eisernen Vorhang". Zwangsläufig spielen dabei auch Deutschland und die Deutschen eine tragende Rolle. 2002 war Henryk Grynberg Gast am Literarischen Colloquium Berlin in einer Villa an einem Ufer des Wannsees. Er beschloss von dort aus noch eine andere Villa am gegenüberliegenden Seeufer zu besichtigen: Das Haus der Wannseekonferenz.
Grynberg: "Es kam mir so vor, als würde ich eine Drachenhöhle betreten, das Reich des Bösen. Auf jeden Fall war das ja das Haus, in dem das endgültige Urteil über mich und meine Familie gefällt wurde. Und dieses Urteil wurde fast vollständig vollzogen. Meine Mutter und ich entkamen zwar der Exekution, aber mein anderthalb Jahre alter Bruder überlebte den Winter, der auf die Wannseekonferenz folgte, nicht mehr. Das alles fühlte ich, als ich in der Villa war, als ich die Porträts der Konferenzteilnehmer an den Wänden hängen sah, ihre Gesichter, die ich in einem Essay genau beschrieben habe."

Überlebt, aber nicht befreit

In drei seiner wichtigsten Erzählungen, die jetzt in deutscher Übersetzung erschienen sind, hat Henryk Grynberg sein Schicksal in Polen zwischen 1942 und 1967 geschildert. Die erste Erzählung, "Der Jüdische Krieg", handelt von der Verfolgung der Familie im Holocaust. Es sind Jagdszenen in einer ostpolnischen Dorfgegend aus der Perspektive des gejagten Kindes. Dieses Kind verliert die Angehörigen durch die deutschen Häscher mithilfe von Verrätern aus der Nachbarschaft. Mit seiner Mutter überlebt er schließlich auf der "arischen" Seite, dank einer geborgten katholischen Identität.
Grynberg: "Ich identifizierte mich vollkommen mit dem christlichen Glauben und dem katholischen Ritual – und es fiel mir schwer, mich nach dem Krieg von all dem zu trennen. Eine Zeit lang ging ich noch in die Kirche und betete das Vaterunser."
Das Kriegsende ist für Grynberg eine Erleichterung beim Überleben, aber keine Befreiung. Der Achtjährige stürzt in eine Identitätskrise, aus der er nur mühsam zu seinen jüdischen Wurzeln zurückfindet. Die Umgebung bleibt feindlich und bedrohlich – auch nach Kriegsende. Davon handelt die Titelgeschichte "Der Sieg", ein Text, den das Yiddish Book Center zu den 100 wichtigsten Werken der modernen jüdischen Literatur zählt. Grynberg spricht im "Sieg" vom Krieg gegen die Juden, der nach 1945 in Polen unter der Oberfläche weitertobt – und er führt dieses Thema in "Vaterland", der dritten Geschichte des Bandes, bis in die Mitte der Sechziger Jahre weiter. Hier geht es um den Alltag des Überlebenden, der als junger Autor und Schauspieler in Warschau lebt.
Grynberg: "Unter dem damaligen Innenminister Mieczysław Moczar entstand eine antisemitische Drohkulisse. Ich arbeitete damals im Jüdischen Theater, war also in meinem Berufsalltag weit weg von dem, was eigentlich in der polnischen Gesellschaft vor sich ging. Plötzlich wurde ich auf einem Silvesterball antisemitisch beschimpft, in einem Hotel erster Klasse in Warschau. Das hatte ich nicht erwartet."

Sorgenvoller Blick auf das heutige Polen

Noch bevor die Kommunistische Partei 1968 ihre berüchtigte antisemitische Kampagne startet und Zehntausende aus dem Land drängt, hat Grynberg bereits genug. Von einer USA-Tournee des Jüdischen Theaters kehrt er nicht zurück. Nach Polen kommt er auch nach der Wende nur zu Besuch. In jüngster Zeit beobachtet er mit Sorge, wie die nationalkonservative Regierung Druck auf kritische Historiker ausübt und einen Denkmalkult um die polnischen Retter von Juden entfacht hat.
Grynberg: "Das erinnert mich sehr an diese antisemitische Kampagne damals, als man sich auf diese polnischen Judenretter berief, um Juden zu verfolgen. Zu solchen Verfolgungen ist bisher noch nicht gekommen. Aber man ist auf dem Weg dahin."
Henryk Grynberg ist einer der besten Vertreter der polnischen Gegenwartsliteratur – spannend und immer umstritten. Zum 80. Geburtstag möchte man ihm vor allem eines wünschen: Viel Zeit zum Schreiben.
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