Letzte Selbstdarstellung vor dem Tod

Clarice Lispectors letztes zu Lebzeiten veröffentlichtes Buch war bisher unter dem Titel «Die Sternstunde» bekannt. Nun ist eine Neuausgabe unter dem Titel «Der grosse Augenblick» erschienen.

Felix Philipp Ingold
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Eine deutsche Neuausgabe von Clarice Lispectors letztem Erzählwerk. (Bild: PD)

Eine deutsche Neuausgabe von Clarice Lispectors letztem Erzählwerk. (Bild: PD)

Als 1944 Clarice Lispectors erstes Prosabuch erschien, ein vielteiliges, locker gefügtes Erzählwerk des Titels «Nahe dem wilden Herzen», war die brasilianische Autorin gerade einmal 23 Jahre alt. Umgehend erkannte und belobigte die Kritik ihre aussergewöhnliche Begabung, sie erhielt für das Buch den Preis für das beste literarische Debüt der Saison – und mehr noch: Der schmale Erstling wurde weithin als der grösste Roman ausgewiesen, der jemals von einer Frau in portugiesischer Sprache abgefasst und in Brasilien publiziert worden sei.

Diese hohe Wertschätzung ist umso bemerkenswerter, als die sperrige Sprache des Werks, der inkohärente Plot, die fragmentarische Figurenzeichnung, aber auch die bisweilen krasse Metaphorik all dem zuwiderliefen, was man damals in Südamerika von «schöner Literatur» noch erwarten durfte.

Eine eigene Kunstsprache

Doch aus eben diesen Unbedarftheiten hat Clarice Lispector in der Folge ihren unverwechselbaren Personalstil entwickelt, eine Art von écriture brute, die auf durchweg innovative Weise mit Brüchen, Fehlern, Wiederholungen, Regelverstössen, Kreolisierungen und andern abweichenden Verfahren operiert. Statt sich der üblichen literarischen Rhetorik zu befleissigen, hat sie diesen «schlechten» Stil zu ihrem erzählerischen Idiom gemacht und daraus eine ganz eigene, bewusst verunreinigte Kunstsprache geschaffen, die von manchen Lesern wie eine Fremdsprache innerhalb der Landessprache empfunden wurde.

Bis zu ihrem frühen Krebstod, 1977, entstanden ausser zahlreichen Zeitungs- und Magazinbeiträgen einige ihrer stärksten Prosawerke, darunter «Der Apfel im Dunkeln» (1961), «Die Passion nach G. H.» (1963) sowie «Eine Lehre» (1969), ein narrativer Traktat über die Unmöglichkeit als einzige Möglichkeit von Liebe und über das Warten als einzige Möglichkeit von Erfüllung. Zuletzt erschien von Clarice Lispector «Die Sternstunde» (1977), eine improvisiert wirkende Erzählsuite in dreizehn Sequenzen, die trotz ihrer durchweg tragischen Intonation, ihrer Handlungsarmut und ihrem unattraktiven Personal eine breite Leserschaft fand. Der nachhaltige Ruhm der Autorin beruht vorab auf ebendiesem völlig unspektakulären Werk, das gemeinhin als eine verkappte Selbstdarstellung mit testamentarischer Geltung verstanden wird.

Gebrochener Erzählstil

Nun ist das Buch in einer betont nüchtern gehaltenen, philologisch deutlich verbesserten Zweitübersetzung unter dem Titel «Der grosse Augenblick» erneut greifbar. Weder für die Titeländerung noch für die Bezeichnung des schmalen Buchs als «Roman» gibt es allerdings eine sachliche Rechtfertigung. Dass für dieses in Todesnähe abgefasste Spätwerk als Cover ein geschöntes Jugendbildnis Clarice Lispectors gewählt wurde, kann man nur als Missgriff empfinden. Doch was zählt, ist der in seiner Ärmlichkeit grossartige Text, der sich als desolate und dennoch hochpoetische Lebensbilanz zu lesen gibt.

«Der grosse Augenblick» erweist sich als ein Remake von «Nahe dem wilden Herzen» – das letzte Buch der Autorin ist eine Überschreibung ihres genialischen Erstlings. Doch alles Genialische ist hier geschwunden, ein vielfach gebrochener Erzählstil hat die einst so dynamische und überraschungsreiche Rhetorik abgelöst. «Ich schreibe ohne Hoffnung, dass etwas, das ich schreibe, irgendetwas verändern könnte. Es ändert nichts», bekannte Lispector in einem letzten persönlichen Statement: «Einstweilen bin ich tot. Ich spreche aus meinem Grab.»

Vorgeführt wird die «Geschichte einer mit Füssen getretenen Unschuld» – das spurlos verlaufende Leben eines ältlichen, zugleich kindischen Mädchens. Dieses wird aus dem provinziellen Nordosten Brasiliens in die lärmige, nicht minder trostlose Metropole Rio de Janeiro verschlagen und findet dort eine unsichere Anstellung als «Schreibkraft». Ungewöhnlich an der jungen Frau, die als «Jungfrau mit vertrocknetem Geschlecht» gleichermassen verächtlich gemacht und sakralisiert wird, ist einzig ihr Name: Macabéa – eine dunkle Anspielung auf Judas Maccabäus und damit auf den zwar sinnlosen, aber «guten» Opfertod.

Clarice Lispector lässt die «wahre, aber erfundene» Geschichte ihrer ungleichen Wiedergängerin von einem männlichen Erzähler aufzeichnen, der in unbeholfener Diktion Erinnerungen an und Vermutungen über Macabéa mitteilt, ohne dass ersichtlich würde, warum und für wen er das tut. Immerhin vermag er für das schusselige Mädchen, das niemandem fehlt, das von niemandem etwas erwartet und das ausser Gleichgültigkeit, Ablehnung, Demütigung nichts zu spüren bekommt, eine gewisse Sympathie, bisweilen auch Mitleid und, seltener, so etwas wie Achtung zu gewinnen: Macabéas angebliche Nichtswürdigkeit (die von ihr widerspruchslos angenommen und erlitten wird) ist in Wirklichkeit ihre unvergleichliche, von niemandem sonst erreichte Würde, die Würde einer duldsamen Märtyrerin, zutiefst menschlich und doch mit einem diskreten Nimbus von Heiligkeit.

Den Leidensweg dieser unglückseligen, wunschlosen und todesgewissen «Jungfrau» markieren dreizehn Stationen, deren Bezeichnungen der Geschichte vorangestellt sind und die ihr Schicksal ahnen lassen: «Die Schuld ist mein», «Das Recht auf den Schrei», «Klage eines Blues», «Ein Gefühl von Verlust», «Ich kann nichts tun» und schliesslich – «Unauffälliger Abgang durch die Hintertür». Macabéas «unauffälliger Abgang» ist die einzige Auffälligkeit in ihrem äusserlich ereignislosen Leben: Nachdem ihr eine Kartenlegerin einen dunkelblonden Fremden namens Hans als Herzensprinzen angesagt hat, tritt sie in der «Mühsal» des Glücks auf die Strasse und wird von einem «gelben Mercedes, riesig wie ein Ozeandampfer», zu Tode gefahren.

«Das Leben ist eine Faust in die Magengrube», kommentiert der unbedarfte Erzähler, der den Tod dreist zur «Lieblingsfigur» seiner Geschichten erklärt: «Aber womöglich brauchte es Macabéa, zu sterben? Es gibt ja Momente, in denen ein Mensch ein kleines bisschen Tod braucht . . .»

Riskante Gedankensprünge

Clarice Lispectors solcherart «erfundene», mithin einzig «wahre» Autobiografie ist trotz kompositorischen Schwächen, sprachlichen Mängeln und einer deutlichen Neigung zu Kitsch und Esoterik ein erzählerisches Meisterwerk. «Die Geschichte ist völlig frei von Technik», erklärt, sich entschuldigend, der vorgeschobene Erzähler: «Sie geht, wie sie eben geht.»

Der Verzicht auf Formzwang und literarische Könnerschaft ermöglicht überhaupt erst das freie bildhafte Assoziieren und die riskanten Gedankensprünge, aus denen immer wieder «erfundene», deshalb unwiderlegbare «Wahrheiten» gewonnen werden. Wahrheiten wie – zum Beispiel – diese: «Es ist notwendig, so sehr zu nichts zu gelangen, dass man den Verbrecher teilnahmslos liebt, der uns umbringt, oder nicht.» Das nimmt sich oftmals wie ein absurdes Gebrabbel aus. Erst bei wiederholtem Lesen offenbart sich der bestürzende Tiefsinn, der im vorliegenden Buch so oft ganz nah beim Unsinn liegt.

Clarice Lispector: Der grosse Augenblick. Roman. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2016. 125 S., Fr. 27.90.