Lauter gemalte Säulen auf Sackleinwand

„Der Fall Deruga“ von Ricarda Huch fesselt immer noch

Von Sebastian EngelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Engelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ricarda Huch (1864–1947) ist nun wirklich nicht bekannt für Krimis. Auch heute zählt sie noch zu den bedeutendsten deutschen Autorinnen. Davon zeugt nicht nur das in Jena stehende Ricarda-Huch-Haus, auch zahlreiche Straßen und Schulen tragen ihren Namen. Aber eigentlich – ja, eigentlich – ist „die Huch“ berühmt geworden für ihre Lyrik, ihre historisch präzisen Schilderungen der Romantik und auch für ihre Deutsche Geschichte. Krimis waren da nie ein Thema. Trotzdem: Der Fall Deruga ist nun eben auch ein Buch von Ricarda Huch – aber von anderer Natur. Huch selbst sagte, diesen Krimi hätte sie geschrieben, um Geld zu verdienen. 20.000 Mark soll es damals dafür gegeben haben. Ist der Text nun Schund oder vielleicht doch einen zweiten Blick wert?

Die Geschichte ist schnell erzählt: Eine alleinstehende, reiche Frau wird tot aufgefunden. Herzversagen? Auf den ersten Blick ja, auf den zweiten Blick dann aber doch Curare, ein Nervengift. Deruga, Frauenheld und Charakterkopf, zudem auch noch Arzt, gerät in Verdacht. Er soll nämlich das gesamte Erbe der Verstorbenen erhalten. Es entspinnt sich vor Gericht ein Ringen um die Wahrheit die gar nicht mal so einfach ist, wie man glauben mag. Der Fall entwickelt sich also langsam. Zwischen den mürrischen, selbstironischen und oftmals spitzen Äußerungen Derugas gegen die etablierten und herrschenden Vertreterinnen der Gesellschaft werden, die in vielen anderen Rezensionen bereits angesprochenen, eindrücklichen Charakterbeschreibungen geliefert, die den Text dann doch als einen von Huch ausweisen. Die Heuchelei der oberen Gesellschaftsschichten wird als das entlarvt, was sie sicherlich auch ist: Eine Reduktion von Motiven auf simples Kosten-Nutzen Denken. Wer die Erfahrung der Liebe zu einem Menschen nicht teilt, wird auch nie auf die Idee kommen, eine Form der Rationalität an den Tag zu legen, wie Deruga es schließlich tut. Ehre, Ritterlichkeit, solche Werte werden nur selten in Handlungen umgesetzt, aber so gut wie immer vor sich hergetragen. Die Beschreibungen schweben dabei zwischen dreister Überzeichnung und extremer Präzision. Die Lesenden können die Figuren fast greifen, so verfügbar sind sie durch die Stilisierungen und die dichten Beschreibungen dessen, was sie tun und wie sie dies tun. Manchmal kann diese dichte Beschreibung aber auch in eine groteske Überzeichnung umschlagen, wenn die Haltung einer weiblichen Zeugin beispielsweise zu stereotyp beschrieben wird – ein schmaler Grat zwischen treffender Explikation dessen, was Literatur ausmacht und stumpfer Repetition von Stereotypen. Ersteres überwiegt und sollte bereits Grund genug sein, Der Fall Deruga zu lesen. Soweit zur Beschreibung dessen, was das Buch bereits ohne Handlung interessant macht. Das Krimipublikum will das Ende nicht wissen, dementsprechend sollte es hier nun aufhören zu lesen.

Das interessante an analytischen Dramen wie König Ödipus ist, dass eine Vorgeschichte die Handlung in Gang setzt. Diese Vorgeschichte wird langsam enthüllt. Genauso bei jedem guten Krimi. Etwas liegt in der Vergangenheit, ist relevant und wird dann rekonstruiert. So auch in diesem Text. Vorab: Deruga ist schuldig, er hat seine ehemalige Frau umgebracht. Aber nicht um das oben bereits erwähnte Erbe zu erhaschen, wie es die ihn anklagende Baronin vermutet, sondern weil seine ehemalige Frau ihn darum gebeten hat. Sie war sterbenskrank und litt Schmerzen. Deruga, immer noch verbunden mit ihr, konnte ihr den Wunsch der Sterbehilfe im Angesicht ihres Leids nicht ablehnen. Er verabreichte ihr das Gift – sie schlief ein und er verließ die Stelle des letzten Gesprächs.

Ricarda Huch thematisiert die Sterbehilfe hier beiläufig, fast streift sie das heikle Thema nur. Die Konsequenzen, die sie aber für die weitere Entwicklung der Geschichte aus der Hilfestellung zieht, sind interessant. Deruga wird nicht etwa dafür bestraft, dass er die Verstorbene beim Sterben unterstützt hat. Seine Intention wird von allen Beteiligten als edel und gut angesehen. Dieser Standpunkt kommt unverhofft. Die Positionen zu allen Formen der Sterbehilfe – egal ob aktiv, passiv oder die Beihilfe zur Selbsttötung – sind heute umstritten. Als Deruga ihr das Gift in der Limonade verabreicht, macht er sich nach heutigem Gesetz strafbar. Sechs Monate bis zu fünf Jahren Haft würden Deruga heute in Deutschland erwarten. Aber nicht in Ricarda Huchs Roman. Im Moment der Offenbarung des Motivs von Deruga zeugen ihm alle Respekt. Es werden schlagartig keine stigmatisierenden Äußerungen über „den Italiener“ mehr getätigt, anerkennend wird ihm zugestanden, dass er seine Ex-Frau doch geliebt haben muss. Deruga enthüllt dann letztendlich den Gesamtvorgang – und so schließt sich der Kreis. Es wurde ein Schuldiger gefunden, dessen Schuld zwar nach den Buchstaben des Gesetzes feststeht, der aber nicht bestraft wird. Die Geschworenen lehnen die Schuldfrage zum Ende des Romans hin ab. Der Fall Deruga ist gelöst. Es bleibt lediglich die Anziehungskraft Derugas auf die Baronin und auch auf ihre Tochter – eine sinnfreie mäandernde Erzählung, die weder glaubhaft noch der Geschichte zuträglich ist. Vielleicht ist aber gerade das einer der Momente, in denen die Selbstbetitelung „Schund“ doch passt. Dieser bleibt aber die Ausnahme.

Man kann bei Der Fall Deruga ohne Zweifel ein Buch erwarten, welches über weite Strecken gut unterhält, sogar relevante Themen behandelt und auf anziehende Weise beschreibt. Die Lektüre kann fesseln, wenn sie es denn schafft, die Lesenden in den Bann zu ziehen. Wer Krimis mag, findet hier einen der besseren Sorte. Wer schon viele Sherlock Holmes-Erzählungen gelesen hat, wird aber nicht überrascht. Die Lösung des Falles ist dann doch schnell klar. Wenn das Buch aber zündet, ist es eine kurzweilige Leseerfahrung, die man nicht mehr missen möchte. Zwar kein weltbewegendes, aber doch ein schönes und unterhaltsames Buch.

Titelbild

Ricarda Huch: Der Fall Deruga. Kriminalroman.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2014.
213 Seiten, 7,99 EUR.
ISBN-13: 9783458360131

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