Unser Beckett wohnt in Uster

Dieter Zwicky las sich am Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt auf den zweiten Platz. Die Feuilletonistenwelt klatscht, doch wie lange? Zwickys Texte sind, wie Zwicky zu treffen: ein Heidenspass.

Daniele Muscionico
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Hält nichts vom Wortwörtlichen: der Schriftsteller Dieter Zwicky. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

Hält nichts vom Wortwörtlichen: der Schriftsteller Dieter Zwicky. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

Uster, Bahnhof, Zwicky, Dieter. Und tatsächlich – Dieter Zwicky hält Wort, er wartet am Perron. Zwicky lesen ist also nicht Zwicky sprechen, der Mensch Zwicky muss ein anderer als der Autor Zwicky sein.

Wie höflich ist dieser! Und wie grandios unhöflich der Andere, der Autor, der keiner Gefallsucht verfällt. Der Andere hält sich nie an sein Wort, er hat sich noch nie an eines gehalten. Der Schriftsteller Zwicky pfeift auf Regel, Norm und Konvention. Und nichts hält er von Wortwörtlichem. Auf ein Wort mit dem Wort des Schriftstellers ist ein Treffen mit einem Versuchten, der immer besser zu scheitern versucht.

Konstrukt Realität

Zwickys Literatur löst nichts ein – doch Einsicht aus. Einsicht zum Beispiel in das Konstrukt Realität. Oder in den vergeblichen Versuch von geglücktem Leben. Das geschriebene Zwicky-Wort ist Anarchophilosophie.

Der andere, der Mensch Zwicky, sagt, wenn er nicht schreibt, zum Beispiel zuhanden der Journalistin, die sich das Scheitern verbieten will: «Ich glaube ja nicht an den richtigen Satz. Ich glaube an den falschen Satz. Dieser ist schön und mustergültig, insofern er vom Bann eines psychischen Zentrums ablenkt und einen über ‹die Hügel dort hinten› trägt.» Solche Sätze spricht er nebenbei, sie sind druckfähig; mit ihnen sind der Autor und der Mensch Zwicky beinahe deckungsgleich.

Doch immer gilt: Wer in der Literatur Sinn sucht, wird von Dieter Zwicky, lizenzierter Theologe, aus der Kirche vertrieben. Hier predigt ein vom Glaubenszug Gefallener in seinen Texten, Geschichten, Erzählungen die Sinnleere, um darauf einen neuen Katechismus zu gründen.

Dieter Zwicky, der Mensch, das ist der Unscheinbare von Uster. So scheint er, so spielt er, ein Versteckspiel einer möglicherweise ausgekochten Type. Einer Type jedenfalls, die den Konjunktiv als Kunstform erklärt hat. Der Konjunktiv kann mehr. Der Indikativ aber auch allerhand.

Im Indikativ ist der 58-Jährige Ehemann, Familienvater, Hundebesitzer. Witz, Satire, Ironie wohnen in der Familie Zwicky zur Untermiete frei. Unterhalb der Familienwohnung in einer Zwicky-gemäss beliebigen Tarn-Siedlung unterhält man ein Atelier, hier malt Zwickys Gattin Ölbilder auf Präzisionsanspruch, der Gatte schreibt.

Besser, hier lässt er schreiben, denn es schreibt sozusagen autonom, autochthon und autokratisch, wenn der Autor sich dazu hinsetzt und sich der Sprache überlässt. «Ich streiche nichts aus in meinen Texten.»

Ein Potpourri von Vergnügen

Krude und wild soll seine Literatur sein, ein «gegenpsychologischer Automatismus», ein grandioses Korrektiv auch zu Biografischem. Schreiben meint nicht messianisches Leiden, das Zwicky-Schreiben ist für den Schreiben-Lassenden «ein Potpourri von Vergnügen». Und nicht minder für den Leser und Liebhaber ungehorsamer Aphorismen, Parabeln, Metaphern. Bei Zwicky explodiert Ordnung und Sinn.

Sein Aufstieg als Autor begann mit seinem Niedergang als Theologe. Vielleicht hat er einmal mit Karl Barth geliebäugelt, doch einer wie er will und kann kein Vorbild und Pfarrer sein. Die Theologen-Niederlage war auch eine Mutter-Enttäuschung – sie hatte sich für ihre Familiengeschichte durch den Sohn die Krönung gewünscht, dem väterlichen Prokuristen-Leben misslang dies grossartig. Doch auch der Sohn schlug augenscheinlich fehl und zog sich alsdann in eine Zürcher Schreibkammer zurück – zwölf lange Jahre. Kurzprosa schlug er als Thesen an seine Atelier-Tür. Ohne Verlag und ohne Resonanz.

Doch mit reichen Kenntnissen an Wirklichkeit als «Hilfstyp» in diversen Poststellen. Dort musste Geld verdient werden, Frau und Kinder rebellierten. Nach fast dreissig Jahren zog nicht er den Schlussstrich auf der Post, sondern sein Rückenleiden. Heute verdient sich Zwicky sein Brot als Korrektor. Dass die «Verarmungsängste» seiner Kinder seitdem geringer sind, kann er nicht bestätigen.

Wie hält er es selber mit seinem Mindestmass an Beachtung aus? Wie findet er eine Stimme? Die Resonanz auf Dieter Zwicky ist gering, doch die, die ihn lesen und schätzen, sind von Einfluss in der literarischen Welt. Eine kleine, eingeschworene Gemeinde, darunter Köpfe wie der verstorbene Germanist Werner Morlang. Er war Zwickys Mentor und Lektor bei vier Büchern und hat ihn in seinem Selbstverständnis immer bestärkt.

Auch sein Auftritt in Klagenfurt kürzlich war Gold wert. Er war ein Höhepunkt seiner Laufbahn, obwohl dies bereits Zwickys zweites Wettlesen war. Doch dieses Jahr las er ein gutes Dutzend Autoren und Autorinnen aus sechs Ländern an die Wand mit nichts als der Präsenz seines sonderlichen, sonderbaren Textes.

«Los Alamos ist winzig» heisst er, und selbstredend war Zwicky weder je in Los Alamos, noch hat er sich je für Los Alamos interessiert. Aber er liebt es, die Leser, verführt von der Sprache, ins Irgendwo zu schicken, in einen Irrwald der scheinbaren Vernunft: um sie dort entdecken zu lassen: Dieser Autor ist auch ein Taschenspieler und Trickser. Los Alamos steht für die Freiheit der Phantasie.

Freiheit ist für Zwicky ein roter Faden. In seinem Schreiben, und in seinem persönlichen Familienleben möglicherweise auch. «Vogelfrei» befand er sich in Klagenfurt, als er als Letzter des Wettbewerbs las, das «theatralische System» Klagenfurt drei Tage lang flanierend beobachtete, im Wörthersee baden ging – und dabei 4 Kilogramm Lebendgewicht durch die Anspannung verlor.

Verlag in den Ferien

Seine Verleger, Beatrice Maritz und Andreas Grosz von der Edition Pudelundpinscher, wollten sich die Reisekosten sparen; Zwicky sorgte an Interviews für Lacher, als er mit ernster Miene erklärte, dass sein Verlag derzeit im Tessin in den Ferien sei. Ohne Verlagsbetreuung durchstand Zwicky auch das Ritual des ehrenvollen Bürgermeisterempfangs. Abseits stand er, die Grossen im Zentrum, kein Standort ohnehin für jemanden, der offen von seiner sozialen Ängstlichkeit spricht. Herrlich unbekümmert, naturgemäss.

Und wenn er sich etwas wünschen müsste, der Mensch mit der Mischung aus narzisstischer Impulsivität und skeptischer Egozentrik? Im Konjunktiv wünschte er sich mehr Resonanz in Deutschland – wiegelt dann sofort ab und setzt zu einem neuen Wunsch an. Sein «Lesegrüppli», bestehend aus treuen Theologenfreunden, möge sich heute in Geduld üben, wenn er den Zug verpasse, um rechtzeitig in Erlenbach dabei zu sein. Seine Worte in den Ohren, die sie verdienen!

Im Herbst erscheint bei Edition Pudelundpinscher die Erzählung "Hihi - Mein argentinischer Vater". Die Präsentation seines neuen Buches findet am 22. September im Literaturhaus Zürich statt.