«Ich bin, was ich entdecke»

Der Anthropologe Marc Augé widmet sich dem Velo und dem Bistro und erkennt in den mit ihnen verbundenen Praktiken die Umrisse einer besseren Welt.

Oliver Pfohlmann
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Ein schönes Versprechen auf Freiheit mit Fahrtwind gibt das Fahrrad – und manchmal stellt es auch ganz gemeine Aufgaben. Zeichnungen von Philip Waechter begleiten Marc Augés «Lob des Fahrrads». (Bild: Philip Waechter)

Ein schönes Versprechen auf Freiheit mit Fahrtwind gibt das Fahrrad – und manchmal stellt es auch ganz gemeine Aufgaben. Zeichnungen von Philip Waechter begleiten Marc Augés «Lob des Fahrrads». (Bild: Philip Waechter)

Was haben das Fahrrad und das Bistro Pariser Provenienz gemeinsam? Vorläufige Antwort: Beides sind Gegenstände, mit denen sich Marc Augé in letzter Zeit beschäftigt hat. Der französische Anthropologe, 1935 in Poitiers geboren, gilt als Begründer einer Ethnologie des Nahen; bekannt wurde Augé vor allem durch seine Theorie der «Nicht-Orte» («Non-lieux», 1992). Diese bildet auch den Hintergrund seiner jüngsten Arbeiten, zweier hochsympathischer Hundert-Seiten-Büchlein, deren deutsche Ausgaben in den Verlagen C. H. Beck bzw. Matthes & Seitz erschienen sind.

Nicht-Orte

Nicht-Orte – das sind für Marc Augé jene geschichts- und gesichtslosen Funktionsorte, die heute mehr und mehr das städtische Leben bestimmen: Hotel- oder Imbissketten, Einkaufszentren, Parkhäuser, Warteräume. Aber natürlich ebenso die Durchgangslager und Heime, in denen Flüchtlinge kaserniert werden. Alles Orte, die den Menschen auf einen transitorischen Zustand der Unbehaustheit und Anonymität reduzieren. Auch moderne Verkehrsmittel wie Flugzeug oder Bahn fallen für Augé darunter. Diese beweglichen Behausungen lassen den Raum schrumpfen und verwandeln dabei den potenziell weltoffenen, neugierigen Reisenden in einen Passagier, der schnellstmöglich und voll klimatisiert zu seinem Ziel transportiert wird.

Das Fahrrad – das im kommenden Jahr den zweihundertsten Geburtstag feiert, entwickelte doch Karl Drais 1817 dessen Urform, die Draisine –, das Fahrrad ist natürlich weder ein Ort noch ein Nicht-Ort. Wohl aber ein Fortbewegungsmittel, und zwar, so Augé, das «menschlichste» von allen, weil es die Fahrer Sonne und Wind im Gesicht unvergleichlich spüren lasse und ihnen helfe, «sich ihrer selbst und der Orte, an denen sie leben, bewusst zu werden».

Wer radle, geniesse die Leichtigkeit, mit der er, nur aus eigener Kraft, den Raum erobere, ob in der Stadt oder auf dem Land: «Der erste Tritt in die Pedale ist der Beginn einer neuen Autonomie, er ist ein schöner Ausreissversuch, die spürbare Freiheit, die Bewegung der Fussspitze, wenn die Maschine auf das Verlangen des Körpers reagiert und ihm gleichsam vorauseilt. Innerhalb weniger Sekunden befreit sich der begrenzte Horizont, und die Landschaft gerät in Bewegung. Ich bin anderswo. Ich bin ein anderer; und dennoch bin ich so sehr ich selbst wie sonst niemals; ich bin, was ich entdecke.» Typischerweise, so Augé, verlerne man das Radfahren so wenig wie das Schwimmen; beide Fähigkeiten wurzelten bei jedem tief in der eigenen Biografie. Man denke nur an jenen magischen Moment, da man erstmals ohne fremde Hilfe, noch um sein Gleichgewicht kämpfend, losfuhr.

Daher ist Augés «Lob des Fahrrads», illustriert mit zwölf zauberhaften Zeichnungen Philip Waechters, zum Teil auch ein autobiografischer Text. Und ebenso ein kulturhistorischer, ist doch der Ausgangspunkt des Anthropologen die Nachkriegszeit: Damals, als das eigene Rad für viele ebenso sehr nötiges Hilfsmittel wie Symbol der Träume und Fluchten war, wurde Frankreich von einem regelrechten Velokult ergriffen, wurden Filme wie Vittorio De Sicas «Ladri di biciclette» (1948) oder Jacques Tatis «Jour de fête» (1949) Kinohits und brachte die Tour de France Volkshelden wie Fausto Coppi hervor – lange bevor der Radsport zu einem dopingverseuchten Zirkusspektakel degeneriert ist, wie Augé anmerkt.

In den sechziger und siebziger Jahren dagegen fanden Augés erste Begegnungen mit einer französischen Institution par excellence statt: dem Pariser Bistro. Galt es im Elternhaus im Quartier Latin noch als anrüchig, unter der Woche eines dieser Cafés zu besuchen, so wurden für den Studenten Bistros zur «natürlichen Verlängerung des Seminars», Orte, an denen er Zeuge wurde, wie Sartre, Hyppolite und Althusser einander zuprosteten oder sich Simone de Beauvoir Studenten vorstellen liess.

Womit das Stichwort gefallen ist: Orte. Aber: Sind nicht auch Bistros Funktionsorte, die man für kurze Zeit aufsucht und an denen man anonym bleibt? Was macht ein Bistro zum Ort, eine Imbisskettenfiliale zum Nicht-Ort? Gewiss nicht der Tresen, auch wenn Augé ihn als wichtigstes Einrichtungselement eines Bistros identifiziert. Sondern offenkundig das vom Ethnologen einfühlsam analysierte Bistro-typische Changieren zwischen An- und Abwesenheit, Distanz und Vertrautheit, das der Gast erlebt. Angefangen bei der Beziehung zum Wirt, der, das Geschirrtuch wie ein Ehrenzeichen über der Schulter, seinen Gast morgens mit einem «Wie geht's? Heute gut in Form?» begrüsst und ihm den Croissant-Korb zuschiebt.

Widerstand und Utopie

So wird für Augé sein Stammbistro zu einem «Ort des Übergangs», «eine Art Treppenabsatz ausserhalb des eigenen Domizils» – man ist nicht zu Hause, aber auch nicht unterwegs. Was haben also das Fahrrad und das Bistro gemeinsam? Für Marc Augé sind die Praktiken, die mit beiden verbunden sind, höchst lebendige Weisen des Widerstands gegen die an Nicht-Orten dominierenden Schrumpfformen des sozialen In-der-Welt-Seins.

So ist das Überraschendste seiner beiden Elogen, dass sie eher utopisch als melancholisch sind. Augés «Lob des Fahrrads» endet sogar in einer berückenden Zukunftsvorstellung: Imaginiert wird der Ausbruch einer «Fahrradrevolution» («Vélo liberté»), die nach und nach alle Grossstädte erfasst, ihren Bewohnern neue Lebensqualitäten beschert und verblüffende Folgen im sozialen, ökonomischen, städtebaulichen oder politischen Bereich zeitigt – und im sprachlichen: So könnte, spekuliert Augé, das Tandem zum neuen Sinnbild für die Solidarität eines Paares werden und «gemeinsam in die Pedale treten» zur stehenden Wendung für die Liebe.

Marc Augé: Lob des Fahrrads. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Mit zwölf Zeichnungen von Philip Waechter. C. H. Beck, München 2016. 104 S., Fr. 21.90. Marc Augé: Das Pariser Bistro. Eine Liebeserklärung. Aus dem Französischen von Felix Kurz. Matthes & Seitz, Berlin 2016. 120 S., Fr. 21.90.