Das Phantom des Bruders

Ein Familiengeheimnis führt den Brasilianer Chico Buarque bis nach Berlin. Sein Roman «Mein deutscher Bruder» ist ein raffiniertes Spiel mit Fiktion, Erinnerung und Autobiografie.

Martina Läubli
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Im Roman «Mein deutscher Bruder» rollt Chico Buarque sein eigenes Familiengeheimnis auf. (Bild: Lluis Gene / AFP)

Im Roman «Mein deutscher Bruder» rollt Chico Buarque sein eigenes Familiengeheimnis auf. (Bild: Lluis Gene / AFP)

Manchmal bietet die Wirklichkeit den verrücktesten Stoff für einen Roman. Um ihn zu finden, braucht es einen Zufall, etwas im buchstäblichen Sinn Zugefallenes. Ciccio angelt in der Bibliothek seines Vaters in São Paulo nach einem alten, weit hinten stehenden Buch – da fällt ein Brief heraus. Er ist auf Deutsch verfasst, datiert auf den 21. Dezember 1931. Eine Anne Ernst aus Berlin erzählt vom gemeinsamen Sohn Sergio, der den «Mangokopf» seines Vater geerbt habe. So erfährt Ciccio von einem ihm unbekannten Bruder.

Irritierende Spiegelungen

Im Roman «Mein deutscher Bruder» rollt Chico Buarque sein eigenes Familiengeheimnis auf. Buarque ist Sänger und Schriftsteller und in Brasilien eine Berühmtheit. In den Jahren der Militärdiktatur politisierte er die Música Popular Brasileira, balancierte mit der Heiterkeit des Bossa Nova zwischen Zensur und Protestsong. Sein Lied «Apesar de Você» von 1970 wurde zur Hymne des Widerstands. Buarque hat auch herausragende Romane veröffentlicht. Dass er einen unbekannten Bruder hatte, erfuhr der 1944 geborene Francisco Buarque de Holanda bereits als junger Mann.

Buarques Vater, der Historiker Sérgio Buarque de Holanda, lebte in den Jahren 1929 und 1930 als Journalist in Berlin, wo er im Hotel Adlon auch Thomas Mann interviewte. Nach seiner Rückreise nach Brasilien brachte Sérgios damalige Geliebte Anne Ernst einen Sohn zur Welt, über den in der Familie Buarque nicht gesprochen wurde. Erst sehr viel später begann Chico Buarque dem Verschwiegenen nachzuforschen. Das Ergebnis ist der nun auf Deutsch erschienene Roman. Obwohl «Mein deutscher Bruder» auf realen Ereignissen beruht, hat Buarque keine realistisch-autobiografische Erzählung geschrieben. Vielmehr treibt der Autor ein schwindelerregendes Spiel mit authentischen Dokumenten, Erinnerung und Imagination.

Es ist ein Spiel mit vielen Unbekannten: Der Erzähler – sein Name Ciccio erinnert an Chico, aber er ist eben nicht derselbe – weiss über seinen deutschen Bruder nicht viel mehr als dessen Namen Sergio Ernst und das Geburtsjahr. Ciccio malt sich für seinen Bruder verschiedene Identitäten aus, und jede ist beunruhigend. Einmal glaubt er einen blonden Buben vor sich zu sehen, die Hand zum Hitlergruss erhoben, auf der Armbinde ein Hakenkreuz.

Ein anderes Mal stellt er ihn sich im Exil in Frankreich vor, auf der Flucht vor den Nazis. Hat Anne Ernst im Brief nicht von ihrer Aussicht gesprochen, einen jüdischen Pianisten zu heiraten? Oder wurde der Name des ehemaligen brasilianischen Geliebten, de Holanda, mit dem jüdischen Familiennamen Hollaender verwechselt? Oder hat Anne Ernst trotz ihrem deutschen Namen eine jüdische Mutter?

So wirbeln die möglichen Identitäten des deutschen Bruders durcheinander, genährt von Spuren und Unterstreichungen, auf die Ciccio in den Büchern seines Vaters stösst. Reden kann er mit seinem Vater nicht. Es bleibt ihm einzig die Suche in dessen wachsender Bibliothek. Sie treibt nicht nur die Phantasie des Erzählers an, sondern schafft auch ein weitläufiges Netz von Verweisen auf die moderne Literatur Lateinamerikas und Europas von Julio Cortázar bis zu Robert Walser. In der Vervielfältigung von Bedeutungen liegt die subversive Kraft der Bibliothek, gerade in Zeiten der Diktatur – kein Wunder, ist sie der Polizei suspekt, als diese zu einer Hausdurchsuchung hereinstürmt.

Macht der Repression

Gesucht wird der Bruder Ciccios – der brasilianische Bruder. Domingos ist ein lateinamerikanischer Macho par excellence, stets auf der Suche nach einem zu verführenden Mädchen. Warum er von der Polizei gesucht wird, ist ein Rätsel. Schliesslich hat er, im Gegensatz zu Ciccio, nie an linken Demonstrationen teilgenommen, sondern mit seiner wohlklingenden Stimme im Radio den Slogan der Militärjunta beworben: «Wer nicht dafür lebt, Brasilien zu dienen, hat es nicht verdient, in Brasilien zu leben.» Doch der unpolitische Domingos war zur falschen Zeit mit einer verdächtigen Frau unterwegs.

Die brasilianische Militärherrschaft (1964–1985) bildet den Hintergrund von Buarques Roman, eine unsichere Ausgangslage für die Suche nach dem abwesenden Bruder, der sich nach dem spurlosen Verschwinden Domingos' gleichsam verdoppelt hat. Solche Spiegelungen geben dem Roman das Gepräge des Unheimlichen – im Hinblick auf den phantomhaften deutschen Bruder ebenso wie auf die Willkür des Regimes. Die spätere Diktatur wirft ihren Schatten über die frühere und umgekehrt. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion werden erschüttert. Obwohl sich die Repression von Brasiliens Militärjunta in aller Grausamkeit auf das Leben der Romanfiguren auswirkt, erscheint sie dem Erzähler als irreale Macht, als nichtgreifbarer Albtraum.

Die Polizeirazzia bringt Dokumente hervor, die zeigen, dass Anne Ernst ihren Sohn 1932 zur Adoption freigegeben hat und Ciccios Vater bis 1936 versucht hat, ihn nach Brasilien zu holen. Er konnte jedoch seine arische Abstammung nicht zweifelsfrei beweisen. Schliesslich tut der Erzähler das Naheliegende: Er fährt nach Berlin, wie dies auch Chico Buarque 2013 getan hat.

Die Geister der Vergangenheit

Recherchen und Zufall greifen in traumwandlerischem Rhythmus, der den ganzen Roman prägt, ineinander – und führen zu Sergio Ernst alias Horst Günther alias Sergio Günther. Sergio Günther wuchs in Ostberlin auf, war Moderator beim staatlichen Rundfunk der DDR und starb 1981. Doch zugleich war er ein Sänger – wie Chico Buarque auf der anderen Seite des Atlantiks.

Und da ist der Schwindel wieder, der einen beim Lesen dieses Buchs ergreift. Die Geister der Vergangenheit nähren sich von Realität und Fiktion gleichermassen. Ciccio weiss, dass das Leben einem Traum gleicht, und schreitet die familiären und politischen Abgründe entlang, ohne zu fallen. In aufreizend leichtem Ton stellt Buarques vielschichtiger Roman die alte Frage neu: Was hat die Vergangenheit mit der Gegenwart zu tun? Wie die Antwort auch ausfällt, sie hat stets etwas Unheimliches.

Chico Buarque: Mein deutscher Bruder. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2016. 256 S., Fr. 28.90.