Verlorene Paradiese

In den siebziger und achtziger Jahren erlebte Zürich einen regelrechten Mode-Boom. Die Edition Patrick Frey legt nun in Buchform ein gewichtiges Zeugnis vergangener Zürcher Modewelten vor.

Jürg Zbinden
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Regina für Thema Selection 1979. (Bild: Sissi Zoebeli)

Regina für Thema Selection 1979. (Bild: Sissi Zoebeli)

In modischer Hinsicht ist die Limmatstadt trotz der Limmat eine Wüstenei – bis 1972 das von drei Frauen gegründete Prêt-à-porter-Label Thema Selection den Wüstenstaub in Zürichs Gassen aufwirbelt. Ursula Rodel, Katharina Bebié und Sissi Zoebeli beginnen an der Weiten Gasse 9. Gemeinsame Koordinaten sind die Styling-Abteilung des Kaufhauses Globus und besetzte Häuser in der ehemaligen Venedigstrasse in Zürich Enge. Das Konzept des Trios gründet auf Gleichberechtigung und einem sicheren Gespür für die Bedürfnisse moderner Frauen, noch bevor diese ihre Wünsche selber zu kennen scheinen. Die nicht mehr von geblümter Hippie-Mode, Woodstock, San Francisco und der Londoner Carnaby Street träumen mögen, sondern sich das Zürich der Gegenwart zu eigen machen wollen. Die Anfänge des Labels sind schwer, bis ein Bericht der amerikanischen «Vogue» 1974 den Durchbruch bringt. Nun pilgern sie plötzlich von nah und fern ins Zürcher Oberdorf.

Nieder- und Oberdorf

Mit dem Oberdorf verbunden ist das Niederdorf, das die Männer anzieht, aber aus einem andern Grund als jenem der Mode – das «Dörfli» ist schon seit den fünfziger Jahren bekannt und berüchtigt für ein ausschweifendes Nachtleben. Gegen Geld erhören schöne Frauen kommune Männer. Die Schönste unter den leichtlebigen Schönen hört auf den Namen Irene, bisweilen auf Irena oder Irène. Ehrfurchtgebietend ist ihr Titel «Lady Shiva». Die berühmteste Prostituierte der Schweiz – vor der Domina Mireille – lässt nicht nur den Strassenmann träumen: Der hyperrealistische Maler Franz Gertsch porträtiert sie, die Thema-Frau Ursula Rodel verfällt ihr, Lady Shiva wird zu Rodels Muse. Zahlreiche Fotos belegen die Schönheit Irene Staubs, die 1989 bei einem Motorradunfall in Thailand ihr junges Leben verliert.

Das Niederdorf hatte – und hat noch immer – den «Booster», wo es Punk-Mode für das kleine Budget zu kaufen gab. In den Gesichtern der phantastischen Modezeichnungen Ursula Rodels meint man die Züge von Irene, aber auch jene der Künstlerin Manon sowie ihre eigenen wiederzuerkennen, die Lippen sind signalrot, so wie die stets geschminkten Lippen von Ursula Rodel – ihr Markenzeichen. Die Thema-Mode hat internationales Flair und bedient sich lange vor Donna Karan der Idee mit unentbehrlichen Basics. 1986 verlässt Rodel Thema Selection, um eigenen Projekten nachzugehen. Zum «inner circle» des Labels gehören zeitweise auch Elisabeth Bossard und Christa Derungs und heute Sonnhild Kestler. Von der Nummer 9 an der Weiten Gasse lässt man sich zwischendurch zwei Nummern herab, später ziehen die Thema-Frauen von der Weiten Gasse 7 weiter an die Spiegelgasse 16.

Die 1970er und 1980er

In den siebziger und achtziger Jahren erlebt Zürich einen Mode-Boom. Auf «Dschingis», die erste Herrenboutique, folgen nebst Thema Selection die Labels Pink Flamingo von Ruth und René Grüninger, dem Gründer der epochalen Plattform SAFT. Ernst Walders Marke A propos macht Furore mit weit geschnittenen Hosen, Mänteln und Jacken, schreibt sich ein in die Schweizer Modegeschichte. Marion Wittenbergs Label Lataa Style, nun im Seefeld beheimatet, zieht eine anspruchsvolle weibliche Kundschaft an. Wohl am erfolgreichsten ist Kurt Ulmer, dem der Spagat zwischen St. Moritz und Zürich gelingt. Sein heute durch Philippe Gaydoul bewirtschafteter Brand Jet Set steht für eine alpine Erfolgsgeschichte, für die Schweizer Strassen hat er die Streetwear entdeckt.

Christa de Carouge verkauft in Genf die Marken Pink Flamingo, A propos und Jet Set, bevor sie 1988 in Zürich ihr eigenes Geschäft eröffnet. «Die schwarzen Hosen von Jet Set hatten praktische Reissverschlüsse und gingen weg wie warme Weggli», erinnert sie sich. Jet Set – damals noch an der Löwenstrasse domiziliert – ist zweifellos die Hipster-Marke jener Jahre, als kaum ein Mannsbild Vollbart tragen wollte, nicht einmal der Skilehrer. Legendär sind im Weiteren die Boutiquen «Niagara» und «Blondino», die Zürichs hedonistische Jugend vor den ersten Unruhen für sich einnehmen.

Weiblicher Chic

Ein in der Edition Patrick Frey erschienener Band konzentriert sich auf die Pionierfrauen von Thema Selection: «Female Chic» ist darum auch keine hausbackene Firmengeschichte, sondern rettet die Aufbruchstimmung von einst in einer Art «Back to the Future»-Mission in die Jetztzeit. «Female Chic» ist Pflichtstoff für jede Schweizer Modefachklasse (womit noch nicht viele Exemplare verkauft wären) und all jene, die die Mode zum Beruf auserkoren haben. Das Buch zeigt auf, dass es eben um sehr viel mehr geht als um ein paar vermeintlich originelle Ideen, es kartografiert exemplarisch lokale Szenen aus Kunst, Mode, Film und Literatur.

Die schöne Irene Staub alias Lady Shiva. (Bild: PD)

Die schöne Irene Staub alias Lady Shiva. (Bild: PD)

Die Kulturwissenschafterin Elisabeth Bronfen geht der Frage nach, welchen Einfluss Uniformen auf Frauen und Männer und im Besonderen auf die Thema-Selection-Frauen hatten; schwarz-weisse Film- und Publicity-Stills von Marlene Dietrich, Bette Davis, Katharine Hepburn oder der 1937 verschollenen Pilotin Amelia Earhart vermitteln den zeitlosen Appeal uniformierter Strenge. Ein bisschen streng urteilt This Brunner, Doyen des Arthouse-Kinos, über einen Berufsstand, der es anno 1972 vielleicht ein Spürchen leichter hatte: «Und die Journalisten waren zu der Zeit auch noch das Geld wert, das man für die Zeitung zahlte.» Auch sonst nimmt er indes kein Blatt vor den Mund und plaudert erfrischend offen aus dem Nähkästchen der «drei glamourösen Weiber».

Und wo Glamour war, hielt sich selbstverständlich schon von jeher der wandernde Fotograf Walter Pfeiffer auf. Im Gespräch mit seiner «alten» Busenfreundin Sissi Zoebeli («Dich kenne ich von allen am allerlängsten») fragt er sie kokett: «Was machte ich denn eigentlich?» Sie antwortet wahrheitsgemäss: «Du hattest ein grosses Comeback, und erst jetzt ist deine erfolgreichste Zeit angebrochen. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der eine solche Karriere gemacht hat.»

Dass Thema Selection kein Tussi-Label ist und war, liegt auf beziehungsweise schwer in der Hand. Bild und Wort bilden eine «marriage» zwischen selbständigen Frauen, und das in Gesellschaft aufgeschlossener, neugieriger Männer. Der Verlagsinhaber Patrick Frey, medienerfahren als Advocatus Diaboli, kratzt im Gespräch mit Ursula Rodel (in ihrem Atelier an der Hohlstrasse) am glänzenden Lack. «Klar, es war schliesslich der grösste Fehler in meinem Leben, dass ich von der Thema fortging. Das war mein Kind», gesteht sie ein. «Female Chic» hat ungefähr das Gewicht eines Babys und wurde zu Recht prämiert als eines der 18 schönsten Bücher des Jahres. Grossen Anteil daran haben die Farbzeichnungen Ursula Rodels. Und immer wieder Fotografien der Filmstarschönheit Irene. «Die wahren Paradiese sind die Paradiese, die man verloren hat», steht in Prousts «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» geschrieben.

Ungetrübtes Amüsement liefert die letzte Buchseite mit unautorisierten, frei montierten Sätzen.

Female Chic / Thema Selection – Geschichte eines Modelabels. Edition Patrick Frey. 632 S., Fr. 70.–.