Interview

«Im Text gibt es keine Kompromisse»

Ihre harsche, aber vielschichtige literarische Abrechnung mit Frankreichs Asylsystem machte Shumona Sinha auf einen Schlag berühmt. Nun lebt die indische Autorin als «Writer in Residence» in Zürich.

Angela Schader
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Schon kurz nach der Ankunft in Zürich hat Shumona Sinha das Seeufer als Ort zum Nachdenken entdeckt. (Bild: Goran Basic)

Schon kurz nach der Ankunft in Zürich hat Shumona Sinha das Seeufer als Ort zum Nachdenken entdeckt. (Bild: Goran Basic)

In «Fenêtre sur l'abîme», Ihrem ersten Roman, heisst es: «Wenn die bengalische Sprache meine Wurzel ist, dann wird das Französische mein Flügel sein.» Wie ist das eine aus dem anderen gewachsen?

In Kalkutta, wo ich herkomme, gibt es eine starke literarische Tradition, das Interesse für Kultur ist eigentlich selbstverständlich. Ich selbst bin inmitten von Büchern aufgewachsen: nicht nur Werke einheimischer Autoren, sondern auch amerikanische, französische, spanische und insbesondere russische Literatur, die ins Bengali übersetzt worden war. Schon als Kind lebte ich in einem offenen Horizont. Mit vierzehn, fünfzehn Jahren stiess ich dann auf einen Reisebericht über Frankreich, den Sunil Gangopadhyay, einer unserer berühmtesten Dichter und Schriftsteller, verfasst hatte. Der Essay zog mich sofort in seinen Bann. Ich wusste: Dort gehöre ich hin, Paris ist der Ort, wo ich sein will.

Ich denke, es gibt eine Art körperliche Fusion mit der Sprache

Französische Kritiker feiern Ihre Prosa, was einiges heissen will. Was fasziniert Sie besonders an dieser Sprache?

All die Dinge, die das Französische auszeichnen, es vom Englischen und vom Bengali unterscheiden, haben mich bezaubert: Die Unterscheidung zwischen maskulin und feminin, die Komplexität der Grammatik, die Schwierigkeit der Sprache – das war eine Herausforderung, der ich mich restlos hingab. Nachdem ich 2001 im Rahmen eines Austauschprogramms nach Paris übersiedelt war, merkte ich plötzlich, dass in meinen Träumen die Familie und meine indischen Freundinnen Französisch statt Bengali zu sprechen begannen.

Dann haben Sie die Sprache nachgerade amalgamiert.

Ja – ich denke, es gibt eine Art körperliche Fusion mit der Sprache. Wenn man das französische Essen, den Wein, die Parfums, das ganze Land zu lieben beginnt, dann inhaliert man das einfach, es geht einem ins Blut, in die Chromosomen über. Das heisst nicht, dass ich meine indischen Wurzeln verloren habe, aber ich bin eine andere, eine hybride Person geworden. «All die Dinge, die das Französische auszeichnen, haben mich bezaubert.»

Ihr literarischer Durchbruch kam 2011 mit «Erschlagt die Armen» – dem Roman, der Sie Ihre Stelle als Dolmetscherin beim französischen Amt für Flüchtlinge und Staatenlose gekostet hat. Erwarteten Sie eine solche Reaktion?

Nicht im Geringsten. Ich glaubte, die Situation, die ich in dem Buch schildere, sei ein offenes Geheimnis. Das Kündigungsschreiben war übrigens seltsam – eigentlich amüsant: Statt sie einfach mit dem Fait accompli des Romans zu konfrontieren, schrieben sie, hätte ich das Manuskript zur Begutachtung vorlegen sollen; dann hätte man mir aufgezeigt, wo ich zu weit gegangen sei.

Sie erzählen im Roman, wie sich Migranten aus Indien und Bangladesh in Lügengespinste verstricken, um politisches Asyl zu erhalten. Ich las das Buch auch als grundsätzliche Kritik an der gängigen Unterscheidung zwischen «Wirtschaftsflüchtlingen» und «echten» Flüchtlingen.

Die Genfer Flüchtlingskonvention wurde 1951 verabschiedet. Es war ein Regelwerk, das den Rahmen für das politische Asyl schuf, und natürlich ist es nach wie vor nötig und aktuell. Aber die Migranten aus Bangladesh und Indien fliehen vor ökologischen und wirtschaftlichen Problemen, die ebenfalls existenzbedrohend sind. Warum akzeptieren die Behörden die Tatsache nicht, die ihnen direkt vor der Nase steht? Warum zwingt man die Leute zu lügen, statt sie einfach ihre Geschichte erzählen zu lassen? Diese Migranten wollen gar nicht in Europa bleiben; sie möchten ein paar Jahre hier arbeiten, um sich dann daheim eine Existenz aufzubauen. Warum kann man das System nicht transparent und ehrlich machen?

Das Buch ist packend und ehrlich, aber auch harsch. Bestand nicht das Risiko, dass es für rechtsnationale Propaganda missbraucht würde?

In Frankreich gab es keine derartigen Probleme, denn 2011, als das Buch erschien, war die Situation anders, es hatte noch keine terroristischen Attacken gegeben. Hätte ich heute anders geschrieben? Vielleicht. Aber ich habe gerade meinen vierten Roman vollendet, und auch darin sage ich Dinge – etwa in Bezug auf Religionen –, die in gewissen Kreisen Anstoss erregen könnten. Da muss man klar zwischen Text und Kontext unterscheiden. Wenn man im Text ist, gibt es keine Kompromisse, nur die Wahrheit. Da kann ich nicht an Kritiker, Journalisten, Interessengruppen denken. Aber in einer politischen Situation wie der jetzigen muss ich anschliessend sehr genau darauf achten, wie ich das Buch präsentiere; ich muss klarmachen, dass es vielschichtig ist und dass meine Darstellungsweise nicht durch einen Mangel an Empathie bedingt ist.

Spürt man in Frankreich derzeit mehr Feindseligkeit gegenüber Menschen anderer Herkunft?

Es ist eher eine Art bipolare Situation. Es gibt viele Leute, vor allem Linke, die progressiv denken. Sie sind grosszügig und offen, nehmen die Worte Liberté, Egalité, Fraternité noch ernst. Sie akzeptieren Fremde, ob sie nun Akademiker oder Arbeiter, auf legalem oder illegalem Weg ins Land gekommen sind, und versuchen ihnen das Leben in Frankreich etwas zu erleichtern. Aber es gibt natürlich auch die andere Seite – den Front national mit seinen diversen Splittergruppen, und leider mittlerweile auch Republikaner, die der Ansicht sind, dass Frankreich der weissen Rasse gehöre. Was mir aber vor allem Sorge macht, sind die Stimmen im Internet. Da gibt es so viele Fanatiker jeder Couleur, die beängstigende Hasspropaganda verbreiten – und jeder von ihnen hat eine riesige Gefolgschaft.

Die Protagonistin von «Erschlagt die Armen!» arbeitet – wie seinerzeit auch Sie – als Übersetzerin. Sie ist diejenige, die immer dazwischensteht: zwischen den Sprachen, den Kulturen, zwischen Entwurzelten und Behausten. Ist das für Sie eine Art Grundbefindlichkeit?

Ich denke schon. Nach den ersten ein, zwei Jahren in Paris begann der Zauber brüchig zu werden. Ich spürte, dass ich immer irgendwie im Dazwischen sein würde. Vielleicht ist auch mein geschärftes Empfinden für solche Dinge schuld daran – aber ich glaube wirklich, dass die Franzosen einem um jeden Preis ein Etikett anheften müssen. Woher kommen Sie, wer sind Sie? Ob ich Taxi fahre oder ein Brot kaufe, immer muss ich diese Fragen beantworten – auch nach fünfzehn Jahren noch. Das Verrückte ist, dass sich das sogar unter Immigranten abspielt, es gibt da eine Art Hierarchie. Wer aus dem Maghreb oder dem frankofonen Afrika kommt, ist schon ein «besserer» Franzose; Leute aus Amerika oder Norwegen sind zwar Fremde, jedoch Fremde höherer Klasse. Wenn man aber aus Indien, Sri Lanka oder Bangladesh stammt, ist man ganz weit unten.

Rebellischer Geist und Pariser Chic - Shumona Sinha hat beides. (Bild: Goran Basic)

Rebellischer Geist und Pariser Chic - Shumona Sinha hat beides. (Bild: Goran Basic)

Ihr Roman «Calcutta», der Ende August auf Deutsch erscheint, erzählt – bestechend schön – von der Rückkehr der Protagonistin in ihr leeres Elternhaus. Haben Sie sich mit diesem Buch zurück in die Heimat geschrieben?

Ja und nein. Dass ich dieses Buch schrieb, hatte zwei Gründe. Zum einen ist «Erschlagt die Armen!» ein Roman, der nur eine Farbe kennt: Schwarz, die Farbe der Wut. Danach spürte ich eine Art Heimweh, eine Zärtlichkeit für meine Heimat. Es gibt so viele Vorurteile über Kalkutta, man assoziiert es nur mit Mutter Theresa und den Armen, die auf dem Trottoir sterben. Aber Kalkutta war fast 140 Jahre lang die Hauptstadt des British Raj. Ich fühlte mich in der Verantwortung, ein anderes Bild meiner Heimatstadt zu vermitteln: Ohne Kalkutta und seine reiche kulturelle Tradition wäre ich heute nicht hier.

Und der andere Grund?

Ganz kurz vor dem Erscheinen von «Erschlagt die Armen!» ist mein Vater gestorben. Niemandem hätte mein literarischer Erfolg mehr bedeutet, niemand hätte sich mehr daran gefreut, aber er durfte ihn nicht mehr erleben. Für mich ist das eine Wunde, die nie heilen wird.

Man darf «Calcutta» auch als Hommage an ihn lesen – einen fortschrittlichen, weltoffenen, vielleicht auch zu idealistischen Menschen. Trotzdem war Ihre Jugend alles andere als konfliktfrei.

Ja, ich stamme aus einer progressiven Familie, aber auch bei uns gab es Grenzen. Als Kind und im frühen Teenageralter war ich die beste Freundin meines Vaters. Er war Marxist, und als ich vierzehn war, trat ich der Studentenorganisation der Kommunistischen Partei bei; ich ging an Versammlungen, kam oft erst spät abends heim. Klar, ich schwärmte auch für einen Genossen, der doppelt so alt war wie ich – aber da war nichts Körperliches dabei, daran dachte ich nicht einmal. Ich dachte bloss an die Revolution. Aber meine Familie war in heller Aufregung; ich hatte ständig Streit mit den Eltern – harte Kämpfe, die andauerten, bis ich nach Paris ging.

Ohne Kalkutta und seine reiche kulturelle Tradition wäre ich heute nicht hier.

Westbengalen war eine Art politischer Sonderfall in Indien – die Kommunisten regierten dort über dreissig Jahre lang. Ihr Buch ist auch eine Auseinandersetzung mit der damaligen politischen Situation.

Nicht nur Westbengalen, sondern auch unsere Form des Kommunismus war ein Sonderfall. Wir hatten zwar eine kommunistische Regionalregierung, aber sie war eingebunden in die parlamentarische Demokratie der Nation, so konnte der Kommunismus nie zu einem totalitären System werden. Man hätte die Regierung wohl eher als sozialdemokratisch bezeichnen müssen. Nachdem die Kommunisten an die Macht gekommen waren, haben sie zunächst vieles verbessert – die grosse Landreform, das Schulsystem, die Rechte der Arbeiter; zudem ist Westbengalen praktisch der einzige Gliedstaat in Indien, der ein wirklich säkulares Staatswesen hat.

Aber 2011 wurden sie abgewählt.

Ja, die Partei scheint jetzt erschöpft, ausgepowert; sie hat nicht realisiert, dass nach 1989 ein Umdenken nötig gewesen wäre. Sie denken, dass wir immer noch in der Zeit Stalins oder meinetwegen Chruschtschows leben. Sie wissen nicht, sie begreifen nicht, wie sie gegen die Armut angehen können. Das Problem ist, dass die neue Regierung, welche die Kommunisten abgelöst hat, alles andere als demokratisch ist. Es ist eine Rechtsaussenpartei, fast schon faschistisch und äusserst gewaltbereit. Die Kommunisten werden jetzt wieder verfolgt, wie in den 1970er Jahren während des Ausnahmezustands unter Indira Gandhi.

Ihre Romane, insbesondere «Calcutta», wären für ein indisches Publikum sicher von Interesse. Haben auch Ihre Werke den Weg nach Hause gefunden?

Noch nicht. Ich werde zwar in Indien wahrgenommen: Die Rezeption meiner Bücher, auch die Preise, die ich erhalten habe – insbesondere die Auszeichnung der Académie française für «Calcutta» –, referieren die Feuilletons mit Begeisterung. Aber meine Bücher kennt man einstweilen nicht.

Shumona Sinha liest am 6. Oktober im Literaturhaus Zürich.