Alle Autoren übertreiben

Die Welt, wenn Jean Echenoz sie beschreibt, erscheint im Breitbildformat und als Makroaufnahme. Was davon ist real, was erfunden? Nach dem Nouveau Roman stellt der französische Autor die Frage neu.

Ingeborg Waldinger
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Versonnen, aber mit Kamerablick: Jean Echenoz. (Bild: Stephane Lavoue / Pasco)

Versonnen, aber mit Kamerablick: Jean Echenoz. (Bild: Stephane Lavoue / Pasco)

Willkommen in der Echenozie! In jenem berückenden Universum, wo Raum und Zeit einem Zerrspiel der Perspektiven ausgesetzt sind. Wo Epochen im Zeitraffer und Momente in Zeitlupe ablaufen; wo die Welt im Breitbildformat und als Makroaufnahme erscheint – in aller gebotenen Ernsthaftigkeit, mit sprachlicher Eleganz und luftigster Ironie. Der Schöpfer dieses Kosmos, Jean Echenoz, wurde 1943 im südfranzösischen Orange geboren und ist Träger der höchsten Literaturpreise Galliens. Mit seinem perspektivischen Schalthebel steuert er auch durch die hinreissenden Miniaturen des Bandes «Die Caprice der Königin». Er vereint sieben Prosatexte, die zuvor in Periodika, als Einzelwerk bzw. im Rahmen eines Theaterprojekts und einer Schallplattenproduktion veröffentlicht wurden. Die überwiegend sehr schöne Übersetzung ins Deutsche hat Hinrich Schmidt-Henkel besorgt.

Das Nichts des Umlands

Die Titelgeschichte, «Die Caprice der Königin», führt zu einem Haus im Département Mayenne. Von dort vollzieht der Autor einen Panoramaschwenk durch das Nichts des Umlands: «Rechts von der Hand, die dies schreibt, erstreckt sich zunächst eine Terrasse aus körnigen Kunststeinplatten, eingegrenzt durch eine Reihe von Plexiglasscheiben, durch die man den unteren Teil des Panoramas erblickt», hebt der Text an. Von da gleitet der Blick ans Ende des Rasens, hinüber zu ein paar weidenden Kühen. «Vollführen wir nun eine kreisförmige Bewegung (. . .), bis wir später wieder bei der Herde angekommen sind und sehen, ob sie, diese Kühe, sich bewegt haben.» Ins Blickfeld gerät ein von Vegetation fast verdecktes Gehöft. Was soll man zuerst schildern, die Gebäude oder die Natur? «Wir wissen es nicht, denn schliesslich ist es in einer Beschreibung oder Erzählung schwierig, ein jedes Ding an seinen exakten Ort zu placieren, worauf schon Joseph Conrad in seiner ‹Ein Lächeln des Glücks› betitelten Novelle hinweist.»

Solcherart zu poetologisch reflektierenden Compagnons des Erzählers erkoren, folgen wir seinem Kamerablick zu Bäumen, «die allein dank der Schreibweise ihrer Namen fast übertrieben französisch wirken, chêne, frêne, hêtre – Eichen, Eschen, Buchen –, und andere Arten ohne circonflexe», ironisiert Echenoz genüsslich vor sich hin. Dann, in diffuser Ferne, die Bruchstücke eines Schlösschens. Endlich, denkt die Leserin: Jetzt kommt die kapriziöse Königin ins Spiel. Doch just hier beendet der Autor den Panoramaschwenk, dreht zurück auf die Terrasse bis «zu der Hand, die ihren Platz einnimmt und dies hier gerade fertig schreibt»: Zu Füssen des Erzählers nämlich liegt ein Gartenschlauch, an dem ein Ameisenvolk entlangstrebt.

Der Nouveau-Roman-haften Betrachtung folgt eine bübische Spekulation: Halten die Arbeiterinnen kurz inne, um einen verstohlenen Kuss zu tauschen? Vielleicht geben sie auch das Passwort des Tages weiter, «falls sie nicht nur über die jüngste Caprice der Königin spotten». Echenoz' schelmische, zoomende Raumerkundung ist eine Schule der Wahrnehmung. Gewiss, mit dem Quadrat der Entfernung steigt die Unschärfe des Realen; doch auch die detailgenaue Nahaufnahme der Dingwelt garantiert keine objektive Wiedergabe der Wirklichkeit. Mit Alain Robbe-Grillet gesprochen: Auch im Nouveau Roman ist der Mensch auf jeder Seite, in jeder Zeile, in jedem Wort gegenwärtig – mit seinem Blick, seinem Denken, seiner Leidenschaft.

In «Babylon» flaniert Echenoz durch die antike Metropole, und zwar an der Seite von Herodot, der gern dick aufträgt. Aus Euphorie? Aus Leichtfertigkeit? Was soll's: «Alle Autoren übertreiben.» Herodots «Historien» offerieren eben nur eine Möglichkeit des Realen. Ganz wie die Werke des Jean Echenoz. Sein Text «Nelson» komprimiert das Lebensbild des maritimen Kämpen auf sechs Seiten: Vor dem Leser steht ein hoffnungslos an Seekrankheit leidender, fragiler, schmerzgeplagter Mensch, der seine Invalidität «kunstfertig» meistert. Etwa als Gast in einem Herrenhaus in Suffolk, wo er nebenbei Eichen in die Muttererde pflanzt – das Empire benötigt Bauholz für Schiffe, und für Fässer obendrein. Nelson weiss es noch nicht: Wenn ihn bei Trafalgar, an Bord der «Victory», eine tödliche Kugel treffen wird, wird man seine Leiche in einem Branntweinfass konservieren und nach England überführen. Echenoz kratzt nicht an der Aura eines «Nationalhelden», sondern erlöst diesen aus dem Kokon des politischen Mythos.

Ein Glanzstück

Die Novelle «Hoch- und Tiefbau» (Echenoz hat neben Soziologie auch Bauwesen studiert) verknüpft eine reale Katastrophe mit einer Fiktion. Ein untröstlicher Witwer verkauft sein florierendes Brückenbauunternehmen. Zur Ablenkung bereist er die berühmten Brücken der Welt und verfasst eine Geschichte dieses Bautypus. Wieder offen für eine neue Liebe, will er diese am Sunshine Highway – der Brücke über der Tampa Bay – treffen. Eine fatale Idee, denn just in dem Moment rammt ein Frachter den Hauptpfeiler des Bauwerks . . .

Der Text «Nitrox» wiederum kredenzt uns eine Art James-Bond-Girl: Die Neopren-Nixe durchtaucht schaurige Tiefen, um in einer Unterwasserbasis ihren Geliebten zu treffen. Der darf da sogar rauchen. Klar: «C'est moi le patron», sagt er. Der Erzähler hat alle Freiheiten. Blieben noch «Der Flächennutzungsplan» – eine grandiose, melancholische Improvisation zum Thema Bilderverehrung – und die «Drei Baguettes in Le Bourget», ein soziopolitisches Reiseabenteuer in die Pariser Banlieue. Sieben Mal Echenozie, sieben Mal grosses Kino und packende Lektüre: Dieses luftige 140-Seiten-Bändchen ist ein Glanzstück französischer Erzählkunst.

Jean Echenoz: Die Caprice der Königin. Erzählungen. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser Berlin, Berlin 2016. 143 S., Fr. 25.90.