In einer schlaflosen Nacht könnte man sich den Weg ins Jenseits tatsächlich so vorstellen wie John Burnside. "Eine Straße, eine Weide, ein Streifen Dämmerlicht am Zaun und vielleicht noch ein Fuchs auf seiner ersten Morgenrunde durchs weiß bestäubte Gras." Man würde das Haus verlassen, den Blick bis zur nächsten Hügelkuppe schweifen lassen, hinter der sich Schottlands Ostküste verbirgt, und einen Moment lang jenen angenehmen Schauder auskosten, der aus nichts anderem entsteht, als dass die "Paradiesstraße" am Horizont endet und ein namenloses Dahinter verspricht.

Oder man würde mit einem Gefühl totaler Weltverbundenheit noch im Dunkeln aufstehen und auf die erste Sonne zulaufen, hinein in einen überfrorenen Wald, in dem die tauenden Hagebutten aufglühen. Und wie man, erfüllt von Burnsides Epiphanien, so lesend mit ihm geht, würde man doch auch immer spüren, welcher ferne innere Sturm ihm die Schritte lenkt, welcher Fluchtimpuls ihn treibt, fort von der Erinnerung an die Kohlereviere seiner Kindertage, an die Irrenanstalt, in der er Anfang der 1980er Jahre mit seiner Schizophrenie kämpfte, und an den Suff, der ihn fast verschlang.

Burnsides autobiografische Fiktion Wie alle anderen (Waking Up in Toytown) ist die Geschichte einer Genesung. Vor allem aber, und da wechselt dieses misery memoir aus der Schlüssellochperspektive sofort in die Universalität einer anthropologischen Studie, ist es der mitreißende Versuch eines ehemaligen Verrückten und Alkoholikers, die Sehnsucht nach Normalität der Lächerlichkeit preiszugeben. Nicht nur, dass ihn sein Bestreben, sich in den Konventionen einer vorstädtischen Seelenruhe einzurichten, immer tiefer in die Abgründe seiner Suchtpersönlichkeit hineinschraubt, bevor ihm das nachlassende Bemühen ein Stück Befreiung bringt. Sein "Surbiton of the mind" – frei nach dem Inbegriff suburbanen Angelsachsentums in Greater London – ist auch für die, die es vermeintlich errungen haben, bestenfalls Selbstbetrug.

Die Bekenntnisse des Augustinus liefern das Motto

Wie alle anderen ist nach Lügen über meinen Vater, dem Buch, mit dem er auch hierzulande seinen Durchbruch hatte, der zweite Teil eines autobiografischen Projekts, dem in England bereits ein dritter – I Put a Spell on You – gefolgt ist. Die Bekenntnisse des 1955 im schottischen Dunfermline geborenen Autors stehen dabei nicht zufällig erneut unter einem Motto des Heiligen Augustinus, dessen Confessiones ein ähnlich schillerndes Beispiel für privaten Stoff, spirituelle Suche und literarische Verdichtung sind. Ein entscheidender Unterschied liegt allerdings schon darin, dass der bibelfeste John Burnside bei allem Sinn für Transzendenz so radikal diesseitig denkt, dass auch sein Jenseits ein höchst materieller Ort ist, an dem der Staub über die Felder zieht und die Erde an den Schuhen kleben bleibt.

Das Jenseits hinter der Hügelkuppe hat zwar etwas von Epiphanie, aber mindestens so viel von Apophänie, jener Wahrnehmungsstörung, mit der man ihn einst diagnostizierte. Der Psychiater Klaus Conrad definiert sie als "das grundlose Sehen von Verbindungen, begleitet von der besonderen Empfindung abnormer Bedeutsamkeit". Burnside kennt sich damit aus: "Man sieht Muster, wo keine sind, hört Stimmen im allgemeinen Grundrauschen, sieht Gott oder den Teufel im letzten Rest Fertignudeln." Wer unter ihr leidet, begibt sich auf eine "wilde, gnadenlose Suche nach der einen allumfassenden Ordnung, nach einem Hypernarrativ", kurz nach einem "Jenseits".

Apophänie ist ein Zug der Verschwörungstheoretiker und der Verblendeten, "die eine Windbö irrtümlich für den Heiligen Geist halten". Doch zeichnet er nicht auch den Dichter aus, der überraschende Verbindungen zwischen eigentlich getrennten Phänomenen stiftet? John Burnsides eigene Poesie ist der beste Beweis. Wer die zweisprachige Auswahl Anweisungen für eine Himmelsbestattung zur Hand nimmt, wird nicht nur über das seltene Talent staunen, mit dem Burnside beide Gattungen meistert, sondern vor allem über die Einheitlichkeit seiner Vision. Zum Beispiel im Titelgedicht.

Den Schutzräumen misstrauen

"Drei Meilen westlich des Hauses von Sue und Gerry / entdeckte ich die Überreste eines jungen / Kojoten", beginnt es. "Wann er gestorben war, konnte ich nicht sagen, / das weiche Gewebe fehlte; die Augenhöhlen / waren leer, die Eingeweide von der Wiege / des Knochengerüsts abgeschabt, es blieben nur das Helle / der Wirbelsäule und ein paar Fetzen Fell". Wie er von da aus die Endlichkeit aller Kreatur beschwört, folgt jenem "Asche zu Asche", das auch sein Memoir prägt und mündet in die Imagination des eigenen Todes: "Wenn also der Tag kommt, / an dem ich sterbe, / tragt mich aus dem Haus, ungewaschen, nackt, / und lasst mich unter freiem Himmel liegen, wo mich die Krähen / finden werden, / und die Hunde, wenn es welche gibt – Ratten wird es wohl geben, / doch lasst sie fressen, was sie brauchen, damit das, / was sie übrig lassen, leichter / ins Erdreich übergeht."

Burnside bewegt sich an einer Grenze, an der Mensch und Natur sich nicht mehr als selbstständige Einheiten begreifen lassen – gerade in ihrer oft gar nicht friedlichen Koexistenz. Und weil er weiß, dass alle Barrieren künstlich errichtet sind, misstraut er auch den Schutzräumen, die sich der Mensch schafft. Burnside betreibt eine schamanistische Übung, bei der die Übergänge zwischen Diesseits und Jenseits, Tag und Nacht, Wachen und Träumen, Belebtem und Unbelebtem verschwimmen und die Dämmerzonen ins Unendliche wachsen. Er ist immer zugleich hier – und ganz woanders. In seinen Gedichten webt er an der Allverbundenheit einer Welt, in der Verwandlung und Wiederauferstehung vollkommen irdische Vorgänge sind – so wie im Zyklus Bienenmythen, den er für eine Installation vom Amy Shelton schrieb, die 2015 auch in der Berliner DAAD-Galerie zu sehen war. Die jüngste Ausgabe des Schreibhefts dokumentiert ihn.