Die Postkarte in der Brieftasche des Mannes im Café

Schreiben heisst für Ruth Schweikert nach etwas suchen, das man selber nicht kennt. Am Samstag bekommt die Schriftstellerin den Zürcher Kunstpreis, auch für ihr kulturpolitisches Engagement.

Thomas Ribi
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Geschichten, die aus dem Nichts auftauchen: Ruth Schweikert stellt Fragen, die immer zu neuen Fragen führen. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Geschichten, die aus dem Nichts auftauchen: Ruth Schweikert stellt Fragen, die immer zu neuen Fragen führen. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Wie beginnt eine Geschichte? «Zum Beispiel, indem man sich einen Mann vorstellt, der in einem Café sitzt», sagt Ruth Schweikert. Einen älteren Mann. Aber warum ist er da, was tut er? Er sitzt allein an einem Tischchen, etwas abseits, mit Sicht auf die Eingangstür, und es scheint, als ob er unruhig wäre. Er wartet, kein Zweifel, aber auf wen? Und was hat er vor sich auf den Tisch gelegt? «Wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass es eine Brieftasche ist, die vor ihm liegt», sagt Schweikert und wendet den Kopf ab. Und in der Brieftasche liegt eine Postkarte. Offenbar schon ziemlich alt. Vergilbt und abgegriffen. Von wem hat der Mann sie bekommen? Und warum trägt er sie mit sich herum? Bewahrt er sie als kostbare Erinnerung oder als Mahnmal einer Schuld, von der er sich nicht befreien kann?

Ohne Anfang, ohne Ende

So könnte für Ruth Schweikert eine Geschichte beginnen. Obwohl, das wäre natürlich nicht wirklich der Anfang der Geschichte. Es wäre höchstens der Ausgangspunkt des Erzählens, der Anstoss für das Schreiben. Schliesslich beginnt keine Geschichte an ihrem Anfang. Geschichten sind immer grösser und älter als das Stück, das wir von ihnen sehen. Sie haben keinen Anfang, sind immer schon da und verlieren sich in der Vergangenheit.

Keiner weiss genau, woher sie kommen. Aber auf einmal tauchen sie auf und lassen sich nicht mehr zur Seite schieben. Sie fordern ihr Recht, müssen erzählt werden. Nur, wie? Denn genauso wenig, wie sie einen Anfang haben, haben Geschichten ein Ende. Sie ziehen sich ohne Ordnung durch Welt und Zeit, verflechten sich, ändern die Gestalt mit ihren Protagonisten, wechseln manchmal sprunghaft die Richtung und lösen sich auf in neuen Geschichten.

Was noch nicht erzählt ist

Geschichten haben keine Form. Nur die Erzählerin ist es, die sie ihnen gibt. Sie setzt einen Anfang und ein Ende. Sie entreisst eine Geschichte dem Strom der Zeit und hält sie für einen kurzen, kostbaren Augenblick fest, bevor sie wieder zurückfliesst ins brodelnde Magma all dessen, was noch nicht erzählt worden ist. Und natürlich weiss die Erzählerin nie, wohin die Geschichte sie führt. Sie ist nicht Herrin dessen, was sie erzählt. Im Gegenteil, sie lässt sich führen von dem, was erzählt werden will. Muss sich führen lassen von dem, was erzählt werden muss.

«Schreiben ist Recherche», sagt Ruth Schweikert. Und das heisst für die Zürcher Autorin suchen: «Suchen nach etwas, das ich nicht kenne. Ich sehe am Anfang nur Umrisse davon. Was sich dahinter verbirgt, das zeigt sich erst nach und nach.» Schreiben bedeutet für Ruth Schweikert deshalb vor allem auch: aufmerksam sein. Bereit sein, die Wege zu gehen, auf die die Geschichte weist. Auch wenn es steinige Wege sind und sie an Orte führen, die man lieber nicht aufsuchen würde. Antworten auf Fragen, sagt die 51-jährige Autorin, dürfe man sowieso nicht erwarten. In der Literatur führe jede Frage nur zu weiteren Fragen.

Geschichten aus dem Nichts

Die drei Romane von Ruth Schweikert sind voll von Geschichten, die aus dem Nichts kommen, mäandrieren, sich wirr verknäueln und zusammen das ganz normale Durcheinander bilden, das unser Dasein bestimmt. Das chaotische Liebesleben der Malerin Aleks im 1998 erschienenen Debütroman «Augen zu», die auf so zwangsläufige wie bittere Weise scheiternde Beziehung von Andreas und Merete im Roman «Ohio» von 2005 oder das über Abgründen schwebende Beziehungsgeflecht, das sich im neuesten Buch, «Wie wir älter werden», hinter der Ehe von Jacques und Friederike eröffnet: Sie sind Versuchsanordnungen, Labyrinthe, in denen sich die Figuren verirren, weil sie sich ihrer eigenen Geschichte verweigern und schliesslich von ihr eingeholt werden. Weil der Verrat und das Schweigen, auf die sie ihr Leben gegründet haben, brüchig werden und reissen.

Den Zürcher Kunstpreis, den sie am Samstag im Theater Neumarkt in Zürich entgegennimmt, erhält Ruth Schweikert natürlich für ihre Bücher: für die drei Romane, die zwei Erzählbände und die Prosastücke und Essays, die sie in Zeitungen und Zeitschriften publiziert. Dafür hat sie im Frühling schon den Solothurner Literaturpreis und einen Schweizer Literaturpreis erhalten. Doch mit dem Zürcher Kunstpreis will die Jury ausdrücklich auch das Engagement würdigen, das Ruth Schweikert ausserhalb des eigenen Schreibens pflegt. Das ist auch ihr selber genauso wichtig wie das eigene Schreiben, obwohl dieses, wie sie einräumt, dabei oft zu kurz komme.

Ruth Schweikert ist nicht nur Schriftstellerin. Sie ist Netzwerkerin, Sprachrohr der Literaturszene, sie initiiert Projekte und ist unermüdlich, wenn es darum geht, in der Öffentlichkeit Präsenz zu schaffen für kulturelle und politische Anliegen. Sie unterstützt junge Autorinnen und Autoren, als Dozentin am Literaturinstitut Biel und als Schreibtrainerin im «Schulhausroman», wo Schüler Geschichten schreiben und publizieren. Ruth Schweikert ist eine Figur, die man kennt. Weit über den Kreis derer hinaus, die ihre Bücher lesen.

Das permanente Gespräch

Letztes Jahr kandidierte sie auf der Liste «Kunst + Politik» für den Nationalrat. Ohne Erfolg. Aber auch da ging es für sie darum, Präsenz zu markieren für die Literatur, das Kunstschaffen, die Frauen. «Klar hätte ich die Wahl angenommen», sagt sie. Obwohl, zum Schreiben wäre sie dann noch weniger gekommen. Doch Schreiben ist für sie Teil einer grösseren Aufgabe, eines permanenten Gesprächs, in dem wir uns immer wieder neu darüber verständigen müssen, was für eine Gesellschaft wir sein wollen und wie wir das, was wir tun, begründen. Dieses Gespräch führen wir in der Politik, aber auch über die Literatur. Und über die Geschichten, die noch nicht erzählt sind.