In England ein moderner Klassiker: Ausschnitt der Titelgrafik von J. L. Carrs Roman in der Ausgabe von Penguin Books © Penguin Books

Fußball ist ein Sport der Wunder. Jedenfalls ist man mit metaphysischen Erklärungen schnell bei der Hand, wenn es darum geht, Gründe für unerwartete Ergebnisse zu finden. Dabei wäre es manchmal ganz einfach. Man müsste nur Dr. Kossuth fragen; der wüsste Rat. Dr. Kossuth ist ein Exilungar, promovierter Philosoph, der nun in Sinderby gestrandet ist, einem Dorfflecken in der englischen Provinz, 547 Einwohner, irgendwo in Yorkshire. Und es werden Dr. Kossuths Regeln sein, die zu dem Fußballwunder, das sich hier ereignet, einen entscheidenden Beitrag leisten werden: Die Steeple Sinderby Wanderers werden sich, so will es die Fiktion in J. L. Carrs Roman, in der Saison 1973/74 von Runde zu Runde durch den FA Cup schlagen, bis sie schließlich im Finale im Wembley-Stadion auf die Glasgow Rangers treffen und selbstverständlich auch dieses Match für sich entscheiden. Ein derartiges Szenario macht natürlich jedem Eintracht-Frankfurt-Anhänger ein wenig Mut: Wer Magdeburg und Bielefeld hinter sich gebracht hat, wird auch Helene Fischer in der Halbzeitpause überleben.

Aber zurück zum Roman: Carrs Schauplatz ist bevölkert von einer Handvoll skurriler Figuren, die jedoch zu keinem Zeitpunkt, und das ist eine große Kunst, zur Karikatur oder zum Klischee geraten. Carrs Blick ist liebevoll, ironisch, durch und durch empathisch. Der Vorsitzende des Vereins, ein Mr. Fangfoss, ist der reichste Bauer am Platz, praktiziert die Vielweiberei mit zwei Schwestern, ohne dass darüber groß geredet würde, hat keine Ahnung vom Fußball, aber Geld. Alex Slingsby dagegen hat vor einigen Jahren einmal sechs Spiele für Aston Villa bestritten, hatte dann einen Karriereknick und ist nach Sinderby zurückgekehrt, wo er seine nach einem Unfall schwer behinderte Frau pflegt und nebenbei die Dorfmannschaft trainiert.

Dann gibt es noch den Pfarrer, der als Flügelflitzer auf dem Platz von sich reden macht, und, nicht zu vergessen: den Icherzähler, dem Mr. Fangfoss den hochtrabenden Titel "Sekretär" verliehen hat, der aber in Wahrheit nicht nur die Protokolle der Vorstandssitzungen führt, sondern auch noch am Spieltag die Netze aufspannt, die Eckfahnen aufstellt und den Spielern die Waden mit Franzbranntwein einreibt. Durch jenen Joe Gidner, den Protokollanten, scheinen die Ereignisse nur so hindurchzufließen; tatsächlich ist er eine entscheidende Figur, denn er gibt dem Buch seinen Ton und auch die Perspektive auf das Spiel. Von Fußball hat Mr. Gidner wenig Ahnung: "Was ist ein Spiel schon? Nichts weiter als ein Ball, der mal hierhin, mal dorthin rollt! Die wirklich faszinierenden Spiele ereigneten sich hinter der Bühne – unser heimisches Drama."

Wie der Totale Fußball von Michels und Cruyff

Der Philosoph Kossuth aber ist es, der die goldenen Regeln aufstellt, die angeblich für den sensationellen Erfolg der Steeple Sinderby Wanderers verantwortlich sein sollen. Das mag man kaum glauben. Denn die Regeln bestehen aus Sätzen wie: "Man kann den Ball ohne Weiteres spielen, ohne auf seine Füße zu schauen. Frauen müssen beim Stricken auch nicht auf ihre Hände gucken." Regel Nr. 5 dagegen kommt dem Konzept vom Totalen Fußball, wie ihn der Niederländer Rinus Michels entwickelt hat und wie er später von Johan Cruyff perfektioniert wurde, schon recht nahe: "Jeder Spieler bis auf den Mittelstürmer muss das eigene Tor verteidigen, und jeder Spieler bis auf den Torwart muss das gegnerische Tor angreifen."

Wie also geht der Vorstand des Vereins, an der Hand die goldenen Regeln des ungarischen Philosophen, nun vor? Zunächst holt man sich ein paar kräftige Jungs aus der benachbarten Bergarbeiterstadt auf den Platz. Danach wird Sid Swift reaktiviert, ehemaliger Shootingstar der ersten Liga, der unweit von Sinderby, von Depressionen geplagt, in einer Hütte im Moor lebt. Danach sucht man sich ein geeignetes, soll heißen: zum Fußballspielen möglichst ungeeignetes, Gelände, auf dem die Tore aufgestellt werden; in diesem Fall eine Obstwiese mit beträchtlichem Gefälle. Und schon kann es losgehen mit dem Marsch ins Endspiel.

Fußballwunder waren früher leichter zu haben

42 Jahre nach Erstveröffentlichung ist der Roman nun auf Deutsch bei Dumont erschienen. © Dumont

Carrs Roman, im Original 1975 erschienen und nun erstmals in deutscher Übersetzung erhältlich, ist insofern ein historisches Buch, als dass hier äußere Umstände wie Platzverhältnisse oder Wetter noch entscheidenden Einfluss auf den Fußball nehmen konnten, während heute durch die Normierung von Spielfeldmaßen und die zunehmende Verbreitung von Kunstrasenplätzen auch in der Provinz dem Spiel jede Zufälligkeit ausgetrieben werden soll. Fußballwunder waren früher leichter zu haben als heute. Der Plan der Steeple Sinderby Wanderers lautet, es dem Gegner auf dem Platz so unbequem wie möglich zu machen. Selbst ein Heimspiel, so die Vorgabe, soll sich für die höherklassigen Mannschaften nicht wie ein Heimspiel anfühlen dürfen. Wie diese Art von Fußball aussieht, lässt sich vorstellen; beschrieben werden die Matches allerdings, das ist eine von Carrs Strategien, um Plausibilität zu erzeugen, mit eher lyrisch anmutenden Spielberichten aus dritter Hand.

Es gibt wenige gute Fußballbücher. Dies ist eins. Weil es natürlich nur nebenbei vom Fußball erzählt. Und weil es untergründig von einer tiefen Melancholie getragen wird. Jeder Sportler kennt die Leere, die sich einstellt, wenn das Ziel erreicht ist und sich die Gewissheit durchsetzt: So etwas kommt nie wieder. Lebbe geht weider. In Sinderby allerdings nach dem Triumph ohne Fußball. Nach dem Spiel ist nicht immer vor dem Spiel.

J. L. Carr: Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten. Roman. Aus dem Englischen von Monika Köpfer. DuMont Buchverlag, Köln 2017, 192 S., 20,- €