Was Barbara Schöneberger für Moderationen ist, ist Gottfried Benn für Zitate: die Allzweckwaffe, die immer irgendwie den Ton trifft. Auch zum problematischen Verhältnis zwischen Gewalt und Kunst hatte der Lyriker und Essayist ein Bonmot parat: "Sei selber die ununterbrochene Gefahr, das sagt die Kunst", notiert er in einem undatierten Entwurf. Mit dieser Denkweise, in der Literatur in ihrer künstlerischen Militanz gedacht wird, steht Benn beileibe nicht alleine.

Im Jahr 1904 schreibt Franz Kafka an Oskar Pollak: "Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen", 1968 schreit Rolf Dieter Brinkmann Marcel Reich-Ranicki entgegen: "Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie jetzt über den Haufen schießen." Und 1984 packt Elfriede Jelinek in einem Aufsatz für die TheaterZeitSchrift das Beil aus: "Ich schlage sozusagen mit der Axt drein, damit kein Gras mehr wächst, wo meine Figuren hingetreten sind."

Wer sich zurzeit in Buchblogs oder auf den Pinnwänden von Facebook und Instagram rumtreibt, dem bietet sich ein anderes Bild dar: Öfter, als uns lieb sein kann, begegnet uns in den Beiträgen von Buchbloggern, Lese-Enthusiasmierten und Influencern eine neue hochpolierte Form des Buchkitschs. Es ist ein fügsamer Umgang mit literarischen Werken, hinter dem eine weich gespülte Vorstellung davon steckt, zu was Literatur taugen kann. Neuerscheinungen werden für das Fotoshooting mal neben dampfende Teetassen drapiert, mal vor das Avocado-Pflänzchen gelegt, dessen zurechtgedüngtes Grün das Cover hübsch ergänzt. In argen Fällen verraten die dazugehörigen Texte, dass bei deren Abfassung vor allem darüber sinniert wurde, ob nun der Früchte- oder der Magen-Darm-Tee das Wasser schöner färbt für das unausweichliche nächste Foto.

Eine männliche Wand aus Wörtern

Dass ein Buch eine Zumutung sein könnte, ein unverfrorener, gerne auch aggressiver Affront gegen die eigene oder gemeinschaftliche Gemütlichkeit, das scheint undenkbar für ein solches, braves und bräsiges Literaturverständnis. Stattdessen wird der Schongang eingelegt, und mit ihm setzt die oftmals ätzende Wirkung von Kitsch ein.

Denn diese Bilder in diesen Netzwerken hören ja gar nicht mehr auf. Wer glaubt, am Ende angekommen zu sein, dem erscheint dieser grausig-gräuliche Ladekreis, und weiter geht's, immer weiter, mit Links zu einer Foto-Ausstellung, die Porträts von ausschließlich schlanken, gut aussehenden Frauen zeigt, die in der Pariser Métro lesen, mit Montagen von einer verträumt-betrübt schauenden Frau, die von einer männlichen Wand aus Wörtern umarmt wird.

Einer Kritik werden diese Projekte und Postings selten unterzogen – schließlich arbeiten alle zusammen daran, die gefährdete Lesekultur zu schützen. Wer will schon dagegen angehen? Dabei ist die Graswurzelgeste vieler Buchblogger, Literatur auch abseits des Feuilletons zu distribuieren und zu bewerten, begrüßenswert und wichtig. Letztlich diskreditiert sich diese Bemühung aber oftmals selbst, indem sie ihren eigenen Gegenstand bis zur Stumpfheit verhätschelt und verhunzt.

Der Diätcoach will auch was sagen

Flankiert wird diese Entwicklung von einem Service-Gedanken, der das Lesen zur spätkapitalistischen Wohltat umetikettiert. Wer liest, ist ein besserer Mensch, sagt der Sozialpsychologe. Und verdient später im Beruf mehr Geld, fügt der Anlageberater eilfertig hinzu. Leben tut er oder sie auch länger, sagt dann noch der Gerontologe, bevor der Diätcoach vorprescht: Und man wird durch Lektüre auch noch weniger dick!

Das mag ja gänzlich oder teilweise stimmen, bloß: Sollte das ausschlaggebend sein, um den Wert von Literatur zu ermessen? Letztere wird hierdurch zur Serviceleistung degradiert, mit der sich das Leben bestmöglich gestalten lässt, zum Supertool, das wir in uns hineinschaufeln sollen wie Avocado-Brei. Es soll ja dabei helfen, rüstig, reich und dünn wie Lauch zu werden. Auch bei diesen Optimierungsprojekten spielt die Eigenartigkeit literarischer Werke kaum mehr eine Rolle.

In beiden Fällen ist das literarische Buch nicht mehr die Waffe, mit der falsches oder sinnwidriges Denken gesprengt wird. Es ist die Watte, mit der wir uns in den Schlaf tupfen, das Deko-Accessoire, mit dem Likes und Distinktion angehäuft werden, das achtsame Hobby-Arrangement, mit dem wir uns in wohltuender Selbstgefälligkeit über die Zeit und die Schrecken hinwegtrösten.