Im Unterholz gestrauchelt

Der Amerikanist Dieter Schulz möchte Henry David Thoreau auf dessen Wegen folgen, geht ihm aber eher voran

Von Andreas R. KloseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas R. Klose

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den vergangenen Jahren sind relativ viele Übersetzungen von Werken Henry David Thoreaus erschienen. Sein Tagebuch soll von dem Berliner Verlag Matthes und Seitz vollständig publiziert werden und sein Hauptwerk Walden ist in verschiedenen Übertragungen erhältlich. Jedoch handelt es sich bei all diesen Übersetzungen um Lese- und nicht um wissenschaftliche Ausgaben mit umfangreichen Anmerkungs- und Kommentarteilen, wie sie die maßgebliche Princeton Edition bietet.

Es war also nur eine Frage der Zeit, bis Monografien und Biografien zu Thoreau erscheinen. Die Darstellung des emeritierten Amerikanisten Dieter Schulz will eher das Erstere als das Letztere sein, und er warnt vorsorglich: „In den einzelnen Kapiteln werde ich immer wieder auf die Lebensumstände verweisen, aus denen die Texte erwachsen sind. Allerdings sollte der Leser keine Biographie erwarten.“ Die biografischen Bezüge werden „eher beiläufig eingearbeitet“, weil Thoreau vorrangig schriftstellerische Ambitionen hatte: Auch wenn seine Texte aus persönlichen Erfahrungen entstanden, zielten sie „auf ein verbindliches, den Einzelnen übersteigendes Wissen.“ In sechs Kapiteln werden seine Hauptwerke vorgestellt: die vier Bücher A Week on the Concord and Merrimack Rivers, Walden, The Maine Woods und Cape Cod, die wichtigsten Aufsätze (bei denen es sich nach Schulz um Civil Disobedience, Walking und Wild Apples handelt) inklusive A Yankee in Canada sowie das Tagebuch. Neben einem Einleitungs- und einem Schlusskapitel behandeln zwei weitere Thoreaus Ausbildung und seine frühe Beeinflussung durch Ralph Waldo Emerson sowie seine „Metaphern und die Rhetorik der ‚Extravaganz‘“. Zusätzlich enthält der Band ein 18-seitiges Literaturverzeichnis und ein Personenregister.

Schulz arbeitet verschiedene Aspekte von Thoreaus Werken heraus: Bei A Week ist es die Kritik an einem lebensfernen Christentum und einer erstarrten Kirche. Das Hauptthema in The Maine Woods ist das Wilde in seiner Bedeutung für den Menschen (und dessen Zerstörung). Thoreaus eigentliches Interesse gelte „jener Wildnis, die den Menschen lockt und dazu einlädt, die eingefahrenen Bahnen der Zivilisation zu verlassen. […] Die Wildnis ist nur da wirklich von Interesse, wo sie dem Menschen entgegenkommt, ihm zuarbeitet, wie umgekehrt die Zivilisation nur solange vital ist, als sie Kontakt mit der Kraftquelle der Wildnis hält.“ Auch in Cape Cod werde die Natur „von ihrer schrecklichen, erbarmungslosen Seite“ dargestellt und die „Gegenüberstellung von Natur und Kultur erweist sich als eines der beherrschenden Themen“.

Das Hauptthema Waldens seien zum einen die Naturbeobachtung und -schilderung, zum anderen „eine radikale Infragestellung der Prinzipien bürgerlicher Ökonomik“, die auch heute „nichts an Schärfe eingebüßt“ habe. Nach Schulz müsse man Walden „auch als hoax, als Jux“ lesen, wolle man das Buch nicht einer „wesentlichen Dimension“ berauben. Für den Essay Walking wird „eine Öffnung des Geistes im alleremphatischsten Sinne“ als zentrales Anliegen Thoreaus bestimmt, „ein Verzicht auf gewohntes Denken und Fühlen, um Wirklichkeit als das ganz Andere zu erfahren“. Der Essay Civil Disobedience, der auch von Konzilianz geprägt sei, da das Ideal in „guter Nachbarschaft“ bestehe, sei „eine Fundamentalkritik jeder Regierung“. Eine einzige Passage – die auch anders auslegbar wäre – reicht Schulz aus, um zu konstatieren, dass Thoreau Gewalt „als letztes Mittel ausdrücklich“ zulasse: „Das Gewissen ist nicht nur im metaphorischen Sinne militant.“ Zugleich habe sich Thoreau „entschieden von Formen kollektiver Aktion“ distanziert: Ihm sei „politisches Engagement eher verdächtig“ gewesen, und mit Tagespolitik wollte er nichts zu tun haben. Jedoch: „Das Thoreausche Ich fühlt sich durch die Politik im Innersten getroffen“, wenn sie „in die eigene Sphäre“ eindrang.

Drei Ansätze oder Konzepte sind Schulz für sein Thoreau-Verständnis besonders wichtig: Erstens schreibt er ihm eine „‚extravagante‘ Rede“, einen extravagant-metaphorischen Diskurs zu: Nach Schulz, dem fast alles zum „Diskurs“ wird, will dieser „Diskurs der Extravaganz provozieren, […] aber dank der Rückbindung an den gängigen Sprachgebrauch lädt er auch immer wieder zur Verständigung ein“. Zweitens findet Schulz bei Thoreau „die Paradoxie einer ‚ekstatischen Methode‘“, in der er durch Emerson beeinflusst war: Sie erfordere eine Rückkehr zu den Sinnen und das Hinter-sich-Lassen gewohnter Sichtweisen. Anscheinend ist die Antwort auf die Frage nach dem Wesen der ekstatischen Methode darin zu sehen, dass die „Dinge“ der Natur sich dem Menschen vorführen wollen und der Mensch „diese ek-stasis“ durch eine besondere Sensibilität „lesen“ könne. Zum Dritten zeichneten sich Thoreaus Naturbeobachtungen durch „das hermeneutische Prinzip“ aus, womit Schulz ein „dialogisches Konzept“ meint, das Thoreau dem Objektivitäts- und Kontrollanspruch der zeitgenössischen Naturwissenschaften gegenübergestellt habe.

Schulz kennt sich ohne Zweifel hervorragend in der Literatur über Thoreau aus, und auch seine Kenntnis der Werke Thoreaus ist beeindruckend. Seine Ausführungen sind dort am besten und nachvollziehbarsten, wo er alle literaturwissenschaftlichen und philosophischen Konzepte hinter sich lässt und Thoreau und sein Werk unmittelbar erläutert. Er bringt jedoch immer wieder Philosophen, Künstler, Denker oder Denkrichtungen ins Spiel, deren Bedeutung er für Thoreau und ein Verständnis seiner Werke nicht plausibel machen kann. Die Referierung ihrer Gedanken wirkt beliebig, zum Beispiel im Falle des Komponisten und Dichters John Cage (der, ebenso wie Hans-Georg Gadamer, mehrfach erwähnt wird). Lange Exkurse über Francis Bacon und Gadamer sowie über Hans Blumenberg und George Berkeley belegen nichts weiter als die Belesenheit des Autors, sie liegen wie Felsblöcke im Text und bleiben unverbunden mit Thoreaus Vorstellungen. Wenn sich Schulz mit einem: „Zurück zu Thoreau“ quasi selbst ermahnt, scheint der Autor die Überflüssigkeit seiner Exkurse selbst zuzugeben. Typisch ist auch ein Satz wie der folgende, den Schulz ganz unvermittelt in seine Darstellung von Thoreaus Spätwerk einfügt: „Die dunkle Spielart dieser Strategie findet sich paradigmatisch bei Schubert“.

Die Aktualität Thoreaus will Schulz durch wiederholte und angestrengt wirkende Hinweise auf Vorwegnahmen belegen: Vorwegnahmen des historiografischen Revisionismus und des „transnational turn der American Studies“, der Kritik „an einem als reduktionistisch empfundenen Wissenschaftsbegriff“, von „Heideggers Kritik der ‚Seinsvergessenheit‘ westlicher Metaphysik und Wissenschaft“, von Gedanken Walter Benjamins, von Aspekten der „Akteur-Netzwerk-Theorie“ und der „hermeneutischen Wende der letzten Jahrzehnte“, in einer Weise, die zeige, dass „er sich auf der Höhe der gegenwärtigen Selbstreflexion der Naturwissenschaften“ bewegt. In diesem Zusammenhang erfolgt eine Einschränkung: „Dennoch hätte Thoreau sich bei der Anerkennung, die er heute von der scientific community erführe [sic], alles andere als wohl gefühlt, ginge diese Anerkennung doch mit Sicherheit auf Kosten des Transzendentalisten, des poet-naturalist, als der er sich bis zuletzt verstand.“

Kritische Betrachtungen hätten der Darstellung gut getan. Die Bedeutung eines Menschen und seiner Werke muss dadurch nicht geschmälert werden. Wie Schulz in einem Interview für den Sender Deutsche Welle erklärte: „Ich habe fast eine Art Laudatio geschrieben statt eine kritische Würdigung.“ Der bewundernde Ansatz ist zwar sympathisch, führt  aber durch zahllose Übertreibungen buchstäblich ins Gegenteil: Passagen in Walden verschlagen den Atem oder werden als „hochdramatischer Schöpfungsakt“ beschrieben, die Natur sei für Thoreau „durchweg feminin konnotiert, als Mutter oder Geliebte“, und die Erfahrung einer Nacht im Gefängnis, die dem Essay Civil Disobedience zugrunde liege, entspreche einem „Erweckungserlebnis im Sinne einer moralischen Neugeburt“, einer „Metamorphose“ und einem „Identitätsbruch“. „Neugeburten“ waren für Thoreau nach Schulz aber nicht selten, auch die Reisen nach Cape Cod seien einer solchen gleichgekommen.

Mit seinen Absonderlichkeiten in Ausdruck, Wortwahl und Stil löst Schulz einige Irritationen aus. Er bezeichnet die Natur als subversiv und schreibt von „narrativ und metaphorisch flankierten“ Ideen, der Wechsel der Jahreszeiten sei zu Thoreaus „Obsession“ geworden, Stimmungen werden als „ich- und welthaltig“ und Thoreaus Tagebuch als „Schreibübung“ bezeichnet, das zudem von einem „Hin und Her von Thoreaus Reflexionen“ bestimmt sei; selbst vor der Wendung „Walden-Projekt“ schreckt der Autor nicht zurück. Immer wieder fallen Schulzes Lieblingsbegriffe „evozieren“ und „Evokation“ und das grässliche Wort „Engführung“. Cape Cod habe Thoreau verwandelt: „Der Sand, der an ihm haftet, verweist auf die neue, globale Sicht, die er auf sich und Amerika gewonnen hat.“ Aber wie kann ein Einzelner eine globale Sicht auf ein Land gewinnen? Schulzes Ausdrucksweise löst die seltsame und seltene Reaktion aus, den Ausführungen des Autors selbst dann nicht unumwunden zustimmen zu können, wenn diese etwas Richtiges vermitteln wollen.

Durchgehend auffallend und eminent störend ist der Gebrauch der Wendung vom „Thoreauschen Ich“ (analog zum Begriff „lyrisches Ich“, der nicht unumstritten ist), abgewandelt als „kontingentes Ich“ oder als „Grundzug des Thoreauschen Ichs“. Auch gibt es ein „Ich“ und „das Selbst“, mit dem anscheinend jeder einzelne Mensch gemeint ist. Andererseits taucht ein „Sprecher“ in Walden auf, womit Thoreau – oder eine partikulare Identität von Thoreau – gemeint ist. Für welche Problematik und vor allem für welchen (literatur-)wissenschaftlichen Ansatz stehen diese „Ichs“? Sollen sie als Hinweise begriffen werden, dass die wahren Überzeugungen, Ideen und Absichten einer historischen Person nicht erkannt werden können? Warum soll nicht Thoreau hinter seinen Texten vermutet werden, sondern sein Ich? Hat Thoreau seine Werke unreflektiert oder bewusst geschrieben? Oder ist das Verhältnis nie ganz vollständig aufzuklären? Gibt es mehrere Thoreausche Ichs? Ist der Forscher oder Wissenschaftler dieser Spaltung, Tarnung oder Inszenierung des historischen Autors überlegen, weil er mehr erkennt, als dem Autor selbst bewusst war? Gibt es auch „Schulzes Ich“? Wenn er dann noch mehrfach von den „Strategien“ Thoreaus schreibt, die er leider viel zu sehr im Dunkeln lässt, wird eine mehrfache Distanzierung zu Thoreau hergestellt (die „Strategie“ des „kontingenten“ „Thoreauschen Ichs“?), die nicht mehr nachvollziehbar ist.

Manchen Lesern sind Schulzes Bemerkungen vielleicht hilfreich. So erklärt er zum Beispiel, dass er im Laufe seiner Beschäftigung mit Thoreau allmählich begriffen habe, „dass das Thoreausche Ich eine persona, eine Maske ist, die das Selbst zugleich ausdrückt und verbirgt.“ Thoreaus Absicht habe darin bestanden, „das Subjekt aus den Fesseln der Ich-Bezogenheit [zu] befreien“. Weshalb muss Schulz dann ständig das Ich erwähnen? Für ihn liegt das Andere jenseits des Ich (wo sonst?); und es besteht eine „Asymmetrie von Ich und Natur“. Löst es dann nicht Konfusion aus, wenn Schulz schreibt: „Das Ich reproduziert eine Strategie, die ihm die Natur vorgemacht hat“? Also doch keine Asymmetrie? Ähnlich verschwurbelt ist die Rede von den Telegrafenleitungen und deren Summen im Wind als ein „Analogon eines Ichs, das sich selbst als Instrument versteht“.

Schulz hat auch den – eigens für ihn zu stiftenden – Preis für den schlechtesten Schlusssatz eines Buches errungen: Man könnte „vielleicht doch so viel sagen: Thoreaus Sterben war stimmig.“ Nachdem Schulz einige Sätze zuvor Thoreaus Sterblichkeit bedauert, fügt er eine Formulierung ein, die nicht weniger befremdlich ist: Thoreaus „Sterben“ erscheine „als angemessenes Finale eines Lebens, dem ekstasis, das Heraustreten aus dem Ich, von einer punktuellen Epiphanie zur beglückenden Gewohnheit geworden ist“. Also nicht allein sein Tod, sondern sein Sterben! Dabei hat Schulz zutreffend auf Thoreaus „Distanz, ja Gleichgültigkeit, gegenüber dem eigenen Leiden“ hingewiesen und auf die „Gelassenheit, mit der er den Leidensdruck der zunehmenden Atemnot und der Hustenanfälle erträgt.“ Die Schwere seiner Erkrankung wird dem Leser also vermittelt. Hängt der Sinn mit dem ersten Satz des Schlusskapitels zusammen? „In seinem Nachruf beklagt Emerson, dass Thoreau durch den Tod aus Projekten herausgerissen wurde, die nur er selbst hätte vollenden können.“ Will Schulz sagen, dass Thoreau seine großen Ideen schriftstellerisch verwirklicht und nichts Bedeutendes mehr zu sagen hatte? Er muss und wird sich doch aber bewusst sein, dass sowohl der Thoreau-Biograf Robert Richardson als auch der Herausgeber von Thoreaus Wild Fruits, Bradley Dean, davon ausgehen, dass Thoreau ein umfassendes Werk über den Verlauf eines Naturjahres in Concord plante?

Schulz ist zu Recht begeistert von Thoreaus stilistischer Brillanz: Mit seinem gesamten Prosawerk „gehört Thoreau zu den größten Stilisten der englischsprachigen Literatur.“ Nach Thoreau müsse sich die Literatur einer Sprache bedienen, die „pulsiert und ‚duftet‘.“ Etwas später zitiert Schulz Noah Websters Mahnung, in der Wissenschaft „plain intelligible terms“ zu nutzen. Diese Forderungen konnte oder wollte er selbst nicht umsetzen. Da Schulz die Zitate – die er gut ausgewählt hat – aus Thoreaus Schriften stets im englischsprachigen Original bietet, setzt er sich mit seinem Buch in eine Konkurrenz zu der englischsprachigen Thoreau-Literatur. Das von Joel Myerson herausgegebene The Cambridge Companion to Henry David Thoreau hat einen vergleichbaren Umfang und ist ähnlich gegliedert. Wer in den von verschiedenen Thoreau-Experten verfassten, sehr lesenswerten Beiträgen auch nur geblättert hat, kann dem Buch von Schulz leider nichts abgewinnen.

Titelbild

Dieter Schulz: Henry David Thoreau. Wege eines amerikanischen Schriftstellers.
Mattes Verlag, Heidelberg 2017.
246 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783868091205

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