Kaum ein Schriftsteller verströmte eine vergleichbare Energie wie er, und kaum einem anderen Autor sind derart viele Meisterwerke gelungen wie Philip Roth. Wunderbar lässt sich darüber streiten, welcher seiner rund 30 Romane sein bester ist, ob man Portnoys Beschwerden (im Original 1969, deutsch 1970) späteren Werken wie Sabbaths Theater (1995, deutsch 1996) oder Der menschliche Makel (2000, deutsch 2002) vorziehen sollte oder nicht.

Nicht übersehen darf man dabei Roths 2006 erschienenen, vergleichsweise schmalen Roman Jedermann, der Leitthemen seines Werkes bündelt und Urthemen wie Krankheit, Alter und Tod mit seltener Schonungslosigkeit behandelt. Jedermann setzt ein mit der Beerdigung des Helden, eines Mannes Anfang 70, der bei einer verhältnismäßig harmlosen Operation einen Herzstillstand erlitten hat. Im Rückblick läuft dessen Leben vor den Augen der Leser ab: die Herkunft aus der Nähe von Newark, die jüdischen Wurzeln der Familie, mit denen der Sohn bald herzlich wenig anfangen kann, das väterliche Geschäft "Jedermanns Schmuckladen", der provozierend gesunde Bruder Howie, die Karriere als Art Director in einer Werbeagentur, die drei Ehen mit drei Kindern, die Leidenschaft zur Malerei und nicht zuletzt die Hoffnung, in einer edlen Seniorenresidenz an der Ostküste Ruhestand und Alter unbeschwert genießen zu können.

Flammrede gegen den treulosen Mann

Doch aus diesen Vorstellungen wird nichts: Philip Roth erzählt in bewundernswerter Kühle, wie sich die Krankheiten in immer schnellerer Folge dieses Mannes bemächtigen und wie dieser – wohin sein Auge blickt –  nur noch Sieche und Sterbende wahrnimmt. Die "Unabweislichkeit des Todes" überzieht alle Gedanken und lässt das Alter, den vermeintlichen goldenen Herbst, als "Massaker" erscheinen – ein Umstand, der umso fataler ist, da der erfolgreiche Werber in seinen besseren Tagen vor (sexueller) Vitalität strotzte und nun zusehen muss, wie das Leben daraus besteht, auf Krankheitssymptome zu achten und tote Weggefährten zu beklagen.

Jedermann fasste im Kleinen noch einmal zusammen, was Philip Roths vielleicht größte schriftstellerische Qualität ausmacht: mit knappen Mitteln Personen zu lebendigen Charakteren zu machen und die Illusion zu nähren, man habe es nicht mit Fiktion, sondern mit realen Menschen zu tun. Etwa wenn er Jedermanns zweite Frau Phoebe, von der er sich wegen einem auf ihre äußerlichen Reize beschränkten dänischen Model getrennt hat, eine glasklare Flammenrede gegen ihren treulosen Mann halten lässt. Oder wenn ein Totengräber in größter Präzision von den handwerklichen Anforderungen an seinen Job berichtet und Roths Held schließlich hocherfreut ist, dass dieser gewissenhafte Mann es war, der das Grab seiner Eltern aushob.

Das alles sind Beispiele einer einmaligen Erzählkunst, und erst diese hilft über das Schreckensbild hinweg, das Philip Roth in Jedermann an die Wand wirft. Der Tod ist nicht zu bannen, und sein Kommen geht meist mit Krankheit und Schmerzen einher – und mit dem grausamen Verlust der wenigen Menschen, die einem bleiben. Und allein mit der Sehnsucht "nach den schönsten Tagen der Kindheit, nach der schlanken Gerte, die damals sein Körper war", lässt sich diese Erkenntnis nicht zurückdrängen. 

Sarkastischer Hecht

Philip Roth, 1933 in Newark, New Jersey, geboren, war kein Autor, der literarische Ambitionen mit moralischen verwechselte. Schon mit seinem Debüt, den Erzählungen Goodbye, Columbus (1959, deutsch 1962), hatte er einen glanzvollen Auftritt, und sein zehn Jahre später folgender Roman Portnoys Beschwerden zeigte ihn als sarkastischen Hecht im Karpfenteich, der es verstand, alle Welt gegen sich aufzubringen. Der Monolog des jungen Juden Alexander Portnoy, der von seinen sexuellen Begierden beherrscht wird, wirkte in seiner grandiosen Komik als Akt der Befreiung und bereicherte das sexuelle Repertoire der Weltliteratur entscheidend.

Zur vielleicht berühmtesten Philip-Roth-Szene avancierte dabei eine Erinnerung Portnoys, die eindeutig belegt, dass selbst glitschige Innereien als Masturbationshilfe geeignet sind: "Ich glaube, ich habe bereits von dem Stück Leber berichtet, das ich bei einem Metzger gekauft und auf dem Weg zum Bar-Mizwa-Unterricht hinter einer Plakatwand gevögelt habe. Nun, ich möchte mir das von der Seele reden, Euer Heiligkeit. Das – sie – es – war nicht mein erstes Stück. Mein erstes Stück hatte ich ungestört bei mir zu Hause, um halb vier, im Bad um meinen Schwanz gewickelt – und dann um halb sechs noch einmal am Ende einer Gabel, zusammen mit den anderen Mitgliedern dieser meiner armen unschuldigen Familie. So. Jetzt wissen Sie das Schlimmste, was ich jemals getan habe. Ich habe das Abendessen meiner Familie gevögelt."