Hinter dem Fenster sehen wir dem erwachenden Frühling zu, manche in Quarantäne, andere, weil ihnen die Arbeit abhanden gekommen ist. Gleichzeitig herrscht eine Leere auf den Straßen, die sich allmählich auch in unsere Seelen hineingräbt.
Am Nullzustand, auf den uns Corona heruntergefahren hat, erfahren wir oder zumindest vergleichsweise viele von uns die eigenartige Renaissance eines der spätmodernen Beschleunigungsgesellschaft fast schon unbekannt gewordenen Gefühls: die Langeweile, eine schier endlose Dauer, die sich, wie der rumänische Schriftsteller Emile Cioran einmal schreibt, als "überquellendes Nichts" äußert. Schon versuchen wir ihm zu entfliehen, verfolgen in einer Minute drei Liveticker, führen ein Telefonat und mixen einen Gesundheitsshake, all das geht ja noch und all das "vertreibt" die Langeweile. Die Frage ist nur: Sollten wir sie nicht viel eher freundlich begrüßen?
Wirft man einen Blick in die
Philosophiegeschichte, so zeigen sich durchaus vielfältige und konträre
Auffassungen, ob die Langeweile nun ein begrüßens- oder vertreibenswerter
Zustand ist. Bis in die Neuzeit hinein hatte sie einen eher schlechten Stand.
Insbesondere mittelalterlichen Kirchenlehrern wie Thomas von Aquin gilt sie als
Inbegriff der Gottesferne. Trägheit als Ausdruck des Totschlagens der Zeit wird
unter dem Begriff der Acedia als mangelndes Bemühen um die Liebe des
Allmächtigen subsumiert. Andere verstehen später die ungenützte Zeit als Betrug
an der menschlichen Vernunft. Der Kopenhagener Denker Søren Kierkegaard empfindet
sie als "grauenhaft". Arthur Schopenhauer, der Hohepriester des philosophischen
Pessimismus, gewahrt in ihr gar die völlige Nichtigkeit des Daseins.
Man kann die Langeweile freilich auch ganz anders lesen: als Zustand, der zu etwas führt. So skeptisch die mehrheitliche Theologie ihr auch gegenüberstehen dürfte – nicht anzuzweifeln ist, dass sie bereits im Garten Eden eine entscheidende Wirkung auslöst. Als Adam und Eva mangels gleichwertiger Ablenkung von der verbotenen Frucht essen, ereignet sich zwar die Entfremdung des Menschen von Gott, damit einher geht jedoch zugleich der Beginn des zivilisatorischen Fortschritts. Langeweile kann Initiation, ja, Aufbruch bedeuten – weniger aus einem Ziel als vielmehr einem glücklichen Zufall heraus.
Das liegt auch daran, dass Langeweile sich dort bemerkbar macht, wo das Denken auf kein Objekt mehr gerichtet ist. Das verkrampfte Streben fällt genauso aus wie das für Heideggers Philosophie zentrale Motiv der Sorge. Ohne sie ergibt sich aber eine Ruhe der Dinge. Sie "stören uns nicht. Aber sie helfen uns auch nicht. Sie ziehen unser Verhalten nicht auf sich. Sie überlassen uns uns selbst."
Wir sind gewissermaßen ganz bei
uns, in einer, wie Heidegger weiter sagt, "Aufenthaltslosigkeit". Inmitten der
"Fetischisierung von Tätigkeit", womit die Psychoanalytikerin Ursula Kreuzer-Haustein 2000 in der ZEIT die Leistungs- und Optimierungskultur unserer
Epoche beschreibt, eröffnet uns die Langeweile demnach die Möglichkeit zur
Kontemplation. Sie erhebt die Forderung, dass wir uns auf extreme Weise selbst
begegnen (und auch aushalten müssen). Bereits Friedrich Nietzsche vernimmt in
ihr daher auch zuoberst eine Prüfung: "Für den Denker und für alle empfindsamen
Geister ist Langeweile jene unangenehme 'Windstille' der Seele, welche der
glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht."
Erst dem Nichts der schwerfälligen Zeit entspringt der Funken für Kreativität. Langeweile lehrt uns, gedankliche Abwege zu gehen und im Entgleiten des Bewusstseins auf bislang nicht wahrgenommene Zonen unserer Vorstellungswelt zu stoßen. Statt Fixierung charakterisiert sie die Entgrenzung, bestenfalls hin zur Muse.
Neben möglichen, neuen Einsichten
bringt das vorübergehende, ziellose In-den-Tag-hinein-Leben überdies ein neues
Zeitverständnis mit sich. Weder verharrt man in der Vergangenheit noch ist das
ganze Leben auf eine irgendwie besser geartete Zukunft ausgerichtet. Langeweile
zwingt uns zur reinen Augenblicklichkeit. Der Moment dehnt sich und kann in
produktive Höhenflüge wie in völlige Ermüdung gleichermaßen führen. Man
schreibt der Langeweile deshalb auch Unberechenbarkeit zu und sieht selten ihr
Ende voraus. Wie Philipp Wüschner in seiner fantastischen Studie Die Entdeckung der Langeweile so treffend konstatiert, ist sie "die einzige
Ewigkeit, die wir kennen".
Passivität ist auch Empfänglichkeit
Da wir zumeist keinen
unmittelbaren Einfluss auf ihre Dauer haben, ihr regelrecht ausgeliefert sind,
sollte daher, wenn wir uns nun um sie und ihre Qualität sorgen, nicht die Frage
nach dem Ob im Vordergrund stehen. Langeweile verweilt, unabhängig von unserem
Willen. Ergiebiger muten Überlegungen zum Wie an. Präsentiert sie sich als Last
oder als Erfahrung? Zu ermatten droht sie den Menschen, wenn er ihr vollständig
die Regie übergibt. Vielleicht vermittelt uns die Langeweile daher am ehesten,
unser Zeitregime wieder selbstständig zu bestimmen.
Dies muss sich dann gar nicht in unstillbarer Aktivität und Fitness im Sinne eines Dagegen niederschlagen. Vielmehr kann auch eine passive Haltung ihren Wert haben, wenn sie einen nicht wider Willen lähmt, sondern man sich selbst diesem Zustand anvertraut. Ihm liegt dann das Potenzial der Empfänglichkeit zugrunde. "Langeweile ist weit, vage", schreibt die Autorin Marguerite Duras einmal in ihrem Buch Ein ruhiges Leben, "ich weiß schon, dass sie kommen wird. Vorher jedoch muß man ihr einen Platz höhlen."
Die Versuchung, genau das nicht zu tun und sich mit gesteigertem Nachrichtenkonsum in einen hypernervösen Zustand zu versetzen, ist derzeit groß. Aber wagen wir doch vielleicht mal für eine begrenzte Zeit das Gegenteil! Wagen wir ein Stück Askese. Schalten wir den Fernseher aus, verbannen wir kognitiv Corona, und schauen wir, was passiert! Da eine Langeweile in Nervosität – in der steten Angst vor dem Virus und seinen Folgen – lähmt, müssen wir sie gewissermaßen umpolen, sie wider alle Intuition und Skepsis bejahen und gerade in ihrem vermeintlichen Nichts den Sinn suchen. Und vielleicht finden wir genau dort einen Lösungsansatz, mindestens für das eigene Hier und Jetzt.
Hinter dem Fenster sehen wir dem erwachenden Frühling zu, manche in Quarantäne, andere, weil ihnen die Arbeit abhanden gekommen ist. Gleichzeitig herrscht eine Leere auf den Straßen, die sich allmählich auch in unsere Seelen hineingräbt.
Am Nullzustand, auf den uns Corona heruntergefahren hat, erfahren wir oder zumindest vergleichsweise viele von uns die eigenartige Renaissance eines der spätmodernen Beschleunigungsgesellschaft fast schon unbekannt gewordenen Gefühls: die Langeweile, eine schier endlose Dauer, die sich, wie der rumänische Schriftsteller Emile Cioran einmal schreibt, als "überquellendes Nichts" äußert. Schon versuchen wir ihm zu entfliehen, verfolgen in einer Minute drei Liveticker, führen ein Telefonat und mixen einen Gesundheitsshake, all das geht ja noch und all das "vertreibt" die Langeweile. Die Frage ist nur: Sollten wir sie nicht viel eher freundlich begrüßen?