Musik, Liebe und Kirche

Dieses Spannungsfeld umreißt Peter Schneider in seinem Roman „Vivaldi und seine Töchter“

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Antonio Vivaldi (1678–1741) ist als Komponist der Vier Jahreszeiten, einem der meistgehörten und meistzitierten klassischen Musikstücke überhaupt, zu Weltruhm gelangt. Erstaunlich, dass er nach seinen großen Erfolgen im Venedig des aufblühenden 18. Jahrhunderts in Vergessenheit geraten war. Weithin bekannt ist inzwischen, dass der rothaarige Vivaldi (deshalb der Spitzname prete rosso) bereits im Alter von 15 Jahren die Priesterweihe empfing und später als Konzertmeister im Ospedale della pietà ein reines Mädchenorchester und einen ebensolchen Chor leitete. Opern von Vivaldi, deren Partituren zum Teil verschollen waren, werden erst seit einigen Jahren neu inszeniert, so etwa Motezuma, um deren Aufführungsrechte einige Streitigkeiten tobten. Vor allem jedoch bestehen in der biografischen Forschung zu Vivaldi viele offene Fragen und Ungereimtheiten, obwohl einige gute Quellen in italienischer und englischer Sprache existieren, wie Peter Schneider am Ende seines Romans ausführt.

Vivaldi wächst als Ältester von sechs Geschwistern in Venedig auf. Als Neugeborener sei er schwer krank gewesen und sein Überleben ein Gnadengeschenk Gottes meinen unisono Hebamme und Mutter. So nimmt es nicht wunder, dass Vivaldi zum einen in die „Pflicht der Dankbarkeit“ hineinwächst und zum anderen seit der Geburt kränklich ist, unter Asthma leidet, das ihm die Brust verengt und den Atem raubt. Vivaldis Mutter schwört vor Gott, dass ihr Sohn Priester werden solle, doch spätestens nach der Weihe zeigt sich, dass Antonios Herz für die Musik schlägt, er ein virtuoser Geiger ist, der seine Arpeggien und Kadenzen unablässig und mit konzentrierter Vitesse zu Papier bringt und diese Kompositionen vom Orchester des Waisenhauses aufführen lässt. Immer wieder hat Vivaldi mit Vertretern der Kirche zu kämpfen, mit dem päpstlichen Nuntius etwa, der ihn auffordert, endlich einmal die Messe zu lesen oder, Jahre später, mit dem Kardinal Tommaso Ruffo, der ihm verbietet, in Ferrara eine Oper aufzuführen. Doch bei all den Querelen und trotz des herrschenden Mäzenatentums gilt Vivaldi als unabhängig. Mit seiner Musik, seinen Kompositionen, seinen Aufführungen und seiner Anstellung am Ospedale verdient er so viel, dass er seine Eltern und Geschwister mitversorgen kann. Seine Freiheit ist nur relativ, denn er steht bis zum Alter von 55 Jahren unter der Ägide seines Vaters. Erst dann unterzeichnet er die sogenannte „Erklärung der vollständigen Emanzipation von der väterlichen Autorität“. Vivaldi heiratet nicht, doch es wird nicht nur in Venedig gemunkelt, dass er mit Anna Girò, die er als Sängerin fördert, eine Affäre habe. Mit den Schwestern Paolina, seiner „Krankenschwester“, und Anna, seiner „primadonna und Muse“, für die Vivaldi in neunzehn von seinen Opern eine Hauptrolle geschrieben hat, geht er auf Tournee, als sein Stern in Venedig am Sinken begriffen ist. Schließlich sorgt Vivaldi sich um den Verkauf seiner Partituren. Er ist verschuldet, flieht, so ist anzunehmen, im Jahre 1740 vor seinen Gläubigern aus Venedig, stirbt im Juli 1741 in Wien und erhält dort ein Armenbegräbnis. Abschließend widmet sich Schneider dem Schicksal, das Vivaldis Werken nach dem Tod ihres Schöpfers beschert ist: Er beginnt beim Interesse deutscher Bachforscher Ende des 19. Jahrhunderts und endet mit der bahnbrechenden Entdeckung der Partitur der Vier Jahreszeiten in einem Piemonteser Kloster im Jahre 1926.

Roman eines Lebens – so lautet der Untertitel zu Vivaldi und seine Töchter. Wie grenzwertig diese Etikettierung ist, lässt bereits Schneiders „Vorspiel“ zur Komposition mit Worten rund um den prete rosso erahnen, nimmt er doch Bezug auf eine Einladung von Michael Ballhaus, ein Drehbuch zu Vivaldis Leben zu schreiben. So weit, so gut, denn dieses wohl nie verfasste Drehbuch hätte die Grundlage für den Roman bilden können. Auf dieses Filmskript wird Schneider nicht müde zu rekurrieren, sodass damit eine Reflexions- bzw. Metaebene eingeführt oder vielleicht sogar eine Legitimationsanstrengung unternommen wird. Sehr bewegend indessen ist die Schilderung des letzten Treffens mit Michael Ballhaus. Im „Vorspiel“ verweist Schneider zudem auf seine eigenen musikalischen Erfolge und auf seinen Vater, Kapellmeister an der Freiburger Oper, der nicht den Erfolg erlangt habe, den er eigentlich verdient hätte. So schleichen sich auch autobiografische Fragmente in die narrativen Episoden zu Vivaldis Biografie ein; daneben tritt ebenso Peter Schneider, der Rechercheur auf, der in Venedig den Archivar Giuseppe Ellero trifft und auf diese Weise das Archiv des Ospedale betreten darf.

Aus all diesen Komponenten resultiert ein opus compositum, eine biografische Revue mit autobiografischer Grundierung, mit additiv gereihten und kontinuierlich kommentierten Einblicken in das Leben des Komponisten. Dem Konglomerat aus dürftig fiktionalisierten Fakten mangelt es sowohl an einem Plot als auch an ausgefeilten Charakteren. In den deskriptiven Passagen spricht Schneider aus der Extradiegese, in den narrativen Episoden tritt ein heterodiegetischer Erzähler auf, der sich mit Stellungnahmen jedoch bedeckt hält. Kurzum: verschiedene Erzählinstanzen tun ein Übriges, um den Potpourri-Charakter des Textes (oder seine Polyphonie?) zu konsolidieren.

Allerdings: die Enttäuschung über die destruierte Erwartungshaltung (kein Roman!) löst sich beim Lesen sukzessive auf und weicht der Freude an einem ungewöhnlichen Zugriff auf das biografische Material, dem Erstaunen darüber, dass es jemandem gelingt, eine ganz besondere Atmosphäre zu kreieren, die trotz Fiktionalisierung in absentia das Venedig des beginnenden 18. Jahrhunderts heraufbeschwört. Es bedarf keiner Anstrengung, sich darauf einzulassen, sich z.B. mit den Mädchen des Orchesters im Ospedale zu beschäftigen, deren Nachnamen durch das Instrument, das sie spielen, ersetzt worden ist. Es herrscht zwar eine klare Hierarchisierung zwischen den figlie della Pietà und den figlie di comun, zwischen den Musikerinnen und denen, die sich nicht als solche eignen, doch diese beruht nicht auf sozialen Distinktionen, sondern auf bloßer Talentselektion. Hier steckt innovatives Potenzial in doppelter Hinsicht: das erste Mädchen- bzw. Frauenorchester überhaupt und die Chance für benachteiligte Mädchen. Schneider geht so weit, Vivaldi mit José Antonio Abreu zu vergleichen.

Außerdem wird daran erinnert, dass Vivaldi auch die Gattung der italienischen Barockoper bediente, noch einige Jahre bevor der Streit um die beste Opernform, die italienische oder französische, aufflammte. Seine Erfolge wurden Vivaldi geneidet, speziell von Benedetto Marcello, der mit seiner Satire Il teatro alla moda und der Kritik an den „Tschingderassabum-Effekten“ der zeitgenössischen Oper nicht zuletzt Vivaldi treffen wollte. Doch dieser blieb standhaft und zäh, komponierte weiterhin für seine primadonna assoluta und arbeitete später sogar mit dem jungen Carlo Goldoni zusammen, der sich zu Beginn seiner Karriere als Librettoschreiber verdingte.

Dass Schneiders Würdigung der Vier Jahreszeiten ein Highlight des „Romans“ darstellt, ist nicht erstaunlich. Zwar gibt er sich in diesem Kapitel (27) besonders deskriptiv, aber es glückt ihm vorzüglich, die Spezifika der Violinkonzerte zu resümieren und sie zu Programmmusik post festum zu deklarieren. Im „Frühling“ spüre man „das Erwachen der Natur“ mit dem „Zwitschern der Vögel“ und dem „Murmeln der anschwellenden Bäche“, im „Sommer“ seien, „wie auch sonst in seiner Musik“, „die Stürme das befreiende, das lebenspendende Element“ und im „Winter“ könne man das „Zähneklappern“ der Frierenden erkennen. Erst im Nachhinein habe Vivaldi jedem Konzert vier Sonette beigegeben, deren Motive er an den passenden Stellen den Noten der Partitur zugeordnet habe.

Bleibt nun noch Anna Girò – für den geplanten Film, so Schneider, habe man eine Liebesgeschichte vorgesehen. Im Roman hingegen dominiert Ambivalenz, denn vage Bemerkungen pro Affäre alternieren mit Anspielungen, die das Gegenteil nahelegen. Und war die 30 Jahre jüngere Anna sowieso niemals Vivaldis Geliebte, sondern vielmehr seine Tochter? Auch das ist laut Schneider eine Hypothese der Biografen.

Vivaldi und seine Töchter konfrontiert seine Leser*innen mit einer Überfülle an Details aus dem Komponistenleben und mit einer Vielzahl von Titeln. Schon allein aus diesem Grund weist der Text einige Längen auf, was eine gewisse Orientierungslosigkeit triggern kann, die dem Kunstcharakter zu schulden ist und eben doch zur Gattung Roman passt. Dem deutlichen Dokumentationscharakter hätten derweil zwischen all den Mikro-Informationen und Namen auch ein paar mehr Jahreszahlen gutgetan. Erst zum Ende hin geht Schneider gewagtere Schritte in Richtung Fiktionalisierung, als er nämlich imaginiert, dass sich Vivaldi und der junge Rousseau in Venedig getroffen haben und Rousseau Vivaldi bittet, die Jahreszeiten für die Traversflöte umzuschreiben. Schade, dass Schneider diese Fiktion nicht stehen lässt, sondern als solche entlarvt.

Alle Ecken und Kanten des „Romans“ verlieren sich und schleifen sich ein in einer klaren, melodiösen und ausgewogenen Sprache, vornehmstes Kennzeichen der „verbal music“ über Vivaldi und seine Kompositionen. Dazu gesellen sich eventuell implizite Form- und Strukturparallelen, vor allem eine Verve, die möglicherweise zu Vivaldis Stück La Follia, „Wahnsinn“, anschlussfähig ist. In diesem „Suchtstück der barocken Musik“ nämlich, nicht nur von Papst Benedikt dem XIII., bei dem Vivaldi eine Audienz hatte, goutiert, wird ein Thema immer wieder aufs Neue – von andante bis prestissimo – variiert. Ganz ähnlich verhält es sich mit Vivaldi und seine Töchter.

Titelbild

Peter Schneider: Vivaldi und seine Töchter. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019.
287 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783462052299

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