Schwarzkünstler, Häretiker und der Antichrist

Monika Neugebauer-Wölk erforscht die unbekannten Fundamente der Neuzeit

Von Jürgen WolfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Wolf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit ändern sich viele Dinge, ebenso viele bleiben aber auch unverändert. Uns sind heute vor allem die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg (um 1450) und die von Martin Luther angestoßene Reformation bekannte Größen. Zu nennen wäre – in Zeiten des Corona-Virus – sicherlich auch die Große Pest (1348–52) mit ihren vielen unmittelbar nachfolgenden kleineren Pestwellen bis ins beginnende 16. Jahrhundert. Vor diesem recht grobschlächtigen Koordinatensystem unternimmt Monika Neugebauer-Wölk gleichsam als Bilanz ihres Forscherlebens den Versuch, die Entwicklungen der Zeit genauer aufzudröseln. Im Zentrum steht dabei die oft übersehene, dafür aber nicht minder wirkmächtige Kosmologische Religiosität. Gefasst sind unter diesem Kunstwort diverse religiöse Aspekte, die wir heute mit Begriffen wie Esoterik, Kosmotheismus, Dämonologie, Kult und Magie bis hin zu „Dechristianisierung“ nur unvollständig zu fassen vermögen. Im Raum stehen auch Epochenbegriffe wie Renaissance und Humanismus, aber auch die Idee, dass sich hier etwas entwickelt, das letztendlich „zur religiösen Szenerie und Dynamik unserer heutigen Zeit“ führt. Der Epilog des Bandes wird entsprechend auch genau dort enden.

Neugebauer-Wölk schreitet einzelne Entwicklungen und Aspekte anhand zeitgenössischer Ereignisse und Werke ab. Startpunkt ist Paris 1398 und die „Determination gegen die Magie“: Am 19. September 1398 sind die Mitglieder der Theologischen Fakultät der Universität Paris versammelt. Johannes Gersons Auftrag als Kanzler der Universität ist es, über die Rechtgläubigkeit zu wachen, und die ist durch „Irrtümer“ wie Götzendienst, Häresie und Dämonenglaube in Gefahr. Gegen diese und überhaupt alle erdenklichen teuflischen Entwicklungen ist die Determination gerichtet. Kapitel 2 legt denn auch gleich eine Fährte, gegen wen es geht: die Magische Kunst der Nigromanten.

Die Schwarzkunst erfreut sich an der Wende zum 15. Jahrhundert großer Beliebtheit und droht, die Grundfesten des Christentums zu erschüttern. Entsprechende Schriften und Handbücher, aber auch die ausgeübte Schwarzkunst selbst, drohen, zu einem Alltagsphänomen zu werden. Radikale Maßnahmen wie Verbote und Verfolgungen – eben die genannte determinatio – erhöhten die Attraktivität sogar noch, wie Neugebauer-Wölk anhand zahlreicher Einzelbeobachtungen etwa zu Paris und Florenz zeigen kann.

In einem zweiten Schritt wendet sich Neugebauer-Wölk der zur selben Zeit aufkommenden Idee des Polytheismus zu. Längst war die Beschäftigung mit heidnischen Religionen theoretisch gerechtfertigt, und große Dichter wie Giovanni Boccaccio und Dante Alighieri beschäftigten sich in ihren Schriften ausführlich mit diversen Religionen. Im Zentrum standen vor allem die griechischen und römischen Götterwelten. Man stellte zwar nicht infrage, dass dies alles heidnisch-unchristlich sei, aber die Faszination war unverkennbar – Faszination für die großen Dichter und Gelehrten dieser heidnischen Zeit, aber auch Faszination für die fremden Götterwelten. Neugebauer-Wölks „Lektüren“ in zeitgenössischen Werken führen dabei ein ums andere Mal vor, wie groß und vor allem wirkmächtig diese Faszination tatsächlich war.

Stück um Stück wächst das Bedrohungspotential, und Neugebauer-Wölk geht den Weg konsequent weiter: Der nächste Baustein ist der Antichrist. Durch Schismen und die sogenannte ‚Avignonesische Gefangenschaft‘ des Papsttums stand selbst der Stellvertreter Gottes auf Erden im Geruch der Unheiligkeit. Sogar höchste Kirchenvertreter nahmen ob der Situation kein Blatt vor den Mund. Sie sahen den Antichristen bereits vor den Pforten stehend, vielleicht sogar schon auf der Erde präsent, wie die sich ausbreitenden Häresien belegten. Und immer wieder stehen dabei auch die Schwarzkünstler im Zentrum. Der (amts-)kirchliche Kampf gegen diese Entwicklungen ist unerbittlich, Häretiker und Schwarzkünstler werden verfolgt und, wo möglich, beseitigt. Bereits in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts münden diese Entwicklungen in Hexenprozesse, die aber erst in der Neuzeit zu einem omnipräsenten, geradezu überprobaten Mittel des Kampfs gegen das vermeintlich Böse entarten.

Es folgt als weiterer Zeitbaustein der Neuplatonismus. Nach bewährtem Modell lässt Neugebauer-Wölk die Autoren/Texte selbst sprechen und bettet sie in zeithistorische Kontexte ein. Mit Nikolaus von Kues öffnet sich das Spektrum hin zu Astrologie, Alchemie, Magie, Hermetik und Kabbala. Der hochgelehrte Kardinal nimmt dabei gleichsam das gesamte Wissen der abendländischen Kultur – egal ob christlich oder heidnisch – als Untersuchungsgegenstand in den Blick. Gleichsam nebenbei erläutert Nikolaus von Kues die Praktiken des Aberglaubens und der Nigromantie, und zwar einerseits im Sinne des Weltwissens und einer Einordnung der heidnischen Antike in ein christliches Weltmodell, andererseits aber auch glaubenspraktisch als Anleitung zum rechten Glauben. Dieses ambivalente Bild wird im Blick auf die Welt der Medici nur noch komplexer. Die ‚gute alte Ordnung‘ beginnt sich vollends aufzulösen.

Es folgen noch viele Hundert Seiten ähnlich spannender Detailstudien, die schließlich in eine Gesamtskizze der Kosmologischen Religiosität einmünden, wobei Schlagworte wie „Dechristianisierung“ und „Rechristianisierung“ den Rahmen der Entwicklungen abstecken. Am Ende steht – im 15. Jahrhundert – eine vielfach aufgebrochene, vielleicht sogar gebrochene christliche Religiosität, die man einerseits beständig und mit aller Macht wieder zu kitten, zu vereinen versucht – bisweilen mit radikalen Maßnahmen wie Verboten, Ketzerverfolgungen und Hexenprozessen –, die andererseits aber auch eine nicht mehr zu kanalisierende Eigendynamik entwickelt. Zu guter Letzt werden im Epilog die Beobachtungen aus Mittelalter und Früher Neuzeit prototypisch auf die Gegenwart projiziert.

Was bleibt dem Leser nach über 800 Seiten, nach einem thematisch höchst ungewöhnlichen Parforceritt durch eine der zentralen Epochen der europäischen Geschichte? Viele neue Erkenntnisse, vieles, was man so weder gekannt noch erwartet hatte, manch Merkwürdiges, verstörend Dämonisches, aber auch eine modern anmutende Dekonstruktion von Religion und sicher geglaubten Lehrsätzen. Durch das immer wieder neue Hineinlesen in zeitgenössische Werke, Berichte, Diskussionen, Reflektionen, Situationen entsteht nicht zuletzt Neugier – das Verlangen, mehr wissen zu wollen, mehr über die Zeit zwischen 1400 und 1450 zu erfahren –, letztlich auch und gerade als Fundament der Moderne. Sicher bleiben viele Fragen offen, genau genommen stellen sich nach der Lektüre sogar weit mehr Fragen, als man zu Beginn zu haben glaubte, doch ein umfangreiches Literaturverzeichnis samt Namenregister erlauben hier glücklicherweise weiterführende Recherchen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Monika Neugebauer-Wölk: Kosmologische Religiosität am Ursprung der Neuzeit 1400-1450.
Schöningh Verlag, Paderborn 2019.
838 Seiten, 168,00 EUR.
ISBN-13: 9783506778611

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