Lesen in der Corona-Krise – Teil 3

Dokumentation eines Anfangs: Paolo Giordano arbeitet den Beginn der Corona-Krise in Italien auf

Von Jonas HeßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Heß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den vergangenen Wochen war zu beobachten, wie aus einer „milden Grippe“ eine tödliche Krankheit wurde, aus einer fernen chinesischen Epidemie eine internationale Pandemie und aus dem Normalzustand eine globale Krise, die nahezu jeden Bereich des Lebens betrifft. Die Geschwindigkeit dieser radikalen Veränderung war atemberaubend, genauso ihre Reichweite. Gerade erst kommen wir ganz in dieser neuen Realität an, die aller Voraussicht nach noch eine ganze Weile anhalten wird.

Insbesondere in solchen Zeiten der Krise ist eine Reflexion der eigenen Handlungsweisen wichtig. Nicht nur, um sich schneller in dem neuen Normalzustand zurechtzufinden, sondern auch um Fehler und unüberlegtes Handeln jetzt und künftig zu vermeiden. Die Literatur und die Künste allgemein sind hierfür zentrales Medium. Nicht verwunderlich also, dass die kulturelle Auseinandersetzung mit der Pandemie beinah zeitgleich mit ihr begann. Und wahrscheinlich werden auch noch zahlreiche künstlerische Erzeugnisse der näheren Zukunft die Corona-Krise zum Gegenstand haben.

Italien, das noch immer die höchsten Infizierten- und Opferzahlen in Europa zu verzeichnen hat, war von Beginn an einer der Hotspots des europäischen Krisenverlaufs und der Krankheitsentwicklung in Deutschland und anderswo auf tragische Weise immer um einige Tage voraus. Der italienische Schriftsteller und Physiker Paolo Giordano, 2008 für Die Einsamkeit der Primzahlen mit dem prestigeträchtigen Premio Strega ausgezeichnet, begann dort bereits Ende Februar 2020 mit einer literarischen Gedankensammlung zur Krise – noch aus dem sich entwickelnden Geschehen heraus.

Der kleine Band In Zeiten der Ansteckung erschien vor wenigen Tagen in Italien und ist schon jetzt (zunächst noch als E-Book) auch in deutscher Übersetzung zu haben. Er dokumentiert eindrucksvoll die langsame Ankunft im Krisenzustand, die einsetzende Verarbeitung der neuen Gegenwart, die Gewöhnung an das Außergewöhnliche.

Vieles, was Giordano Ende Februar und Anfang März – also nur vor wenigen Wochen – tagebuchartig festhält, ist auch uns mittlerweile leider wohl vertraut: Das Konsultieren der Weltkarte der Johns-Hopkins-Universität mit den aktuellen Zahlen Infizierter und Toter, die Auseinandersetzung mit exponentiellem Wachstum und den daraus resultierenden Prognosen, Gedanken zu den Einflüssen der Globalisierung auf die Krise, Überlegungen zu gebotener Solidarität und zum Verlauf der Pandemie in Afrika und – bei all dem – eine neue Sehnsucht nach der alten Normalität.

Die Art und Weise, wie Giordano in seine Überlegungen einsteigt, offenbart zudem zutiefst Menschliches: Wachstumsraten, Prognosen, Hochrechnungen – alles in Zahlen packen, eine Vorstellung von den Dimensionen bekommen, mögliche Schlüsse auf das noch Kommende ziehen. Man beobachtet ihn, und damit auch das eigene Selbst der letzten Wochen, bei dem Versuch, sich in der veränderten Gegenwart mit Modellen zurechtzufinden. Der Versuch, das noch Unbegreifliche greifbar zu machen, um damit umgehen zu können, nicht davon überrollt zu werden.

Es sind noch die Tage der sich täglich ändernden Maßnahmen. Tage, die auch hierzulande schon mehrere Wochen zurückliegen. Was auf diese Weise beim Lesen noch spürbarer wird, ist die Geschwindigkeit der Entwicklung der Krise: Dieser Band ist so aktuell und doch schon jetzt ein Blick in die ferne Vergangenheit.

Doch auch Giordano ist sich dessen bewusst und stellt ebenso Überlegungen über die Zukunft an. Es geht ihm um ökologische Aspekte: Krisen dieser Art werden häufiger eintreten, wenn der Mensch weiter radikal in das Ökosystem eingreift, Tierarten vertreibt oder auslöscht und Viren damit zwingt, neue Wirte zu finden. Aber auch um Soziologisches: Wir alle müssen nun als Menschheit handeln – und uns dabei in doppelter Hinsicht als Teil eines Ganzen verstehen: Als Teil einer Gesellschaft, um die rasche Ausbreitung der Krankheit und hohe Opferzahlen zu vermeiden. Aber auch als Teil eines Ökosystems, um darauf hinzuarbeiten, künftige Krisen dieser Art zu vermeiden.

Er ist besorgt über die Verbreitung von Verschwörungstheorien, die auch in Italien sprießen, weil eine (selbst krumm) konstruierte Wahrheit mit dem einen Ursprung einer „dunklen Macht“ leichter zu verkraften und zu verstehen ist als die tatsächliche Realität mit ihren verworrenen natürlichen und zufälligen Auswüchsen. Und Giordano formuliert die Angst, die ganz am Ende vieler Überlegungen steht. Sie bezieht sich nicht nur auf einen etwaigen (wenn auch fernen) Zusammenbruch der Zivilisation, sondern auch darauf, dass nach der gegenwärtigen Situation ein „back-to-normal“ eintritt, ein Neustart, ohne jegliche Lehren aus der Pandemie.

Und damit gelangt Giordano zu seinem eigentlichen Anliegen. In Zeiten der Ansteckung ist nicht nur eine kluge Reflexion der gegenwärtigen Krise – einer Krise gar, in der es einem Virus gelingt, gerade durch unseren hohen Grad an Vernetzung uns dessen zu berauben, was uns zu sozialen Wesen macht: die (nicht nur digitale) Begegnung, das Miteinander. Giordanos kleiner Band ist auch ein Plädoyer. Ein Plädoyer gegen die Rückkehr zur Normalität vor Corona. Ein Plädoyer dafür, „erweiterte Verantwortung“ zu tragen für unseren „privilegierten Fatalismus“. Ein Plädoyer letztlich für eine neue, intelligente, bedachte und nachhaltige menschheitliche Zukunft.

In den vergangenen Wochen wurde der Kampf gegen das Corona-Virus von manchen bereits als Krieg bezeichnet. 1942 sagte Winston Churchill zum Sieg der britischen Streitkräfte über die deutsche Wehrmacht in Nordafrika bekanntlich: „Dies ist nicht das Ende. Es ist nicht einmal der Anfang vom Ende. Aber es ist, vielleicht, das Ende des Anfangs.“ Das ließe sich wohl auch mit Blick auf die gegenwärtige Lage der Pandemie sagen. Und von diesem Anfang haben wir nun erste literarische Zeugnisse. Man wird noch darauf zurückschauen – und hoffentlich auch daraus lernen. 

 

Hinweis: Alle bisher erschienenen Teile unserer Reihe „Lesen in der Corona-Krise“ finden Sie hier.

 

Titelbild

Paolo Giordano: In Zeiten der Ansteckung. Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert.
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020.
80 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783499005640

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