Schwarzes Feuer im Herzen: Jean Staffords kindliche Romanfiguren sind eine grossartige Zumutung

Hässlich, kränklich, schwach: Molly und Ralph sind alles andere als prädestinierte Helden. Aber die Amerikanerin Jean Stafford erzählt ihre Geschichte mit ebenso viel Wucht wie Augenmass.

Angela Schader
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Mit gleichviel Kühnheit wie Feingefühl inszeniert Jean Stafford das Drama eines Geschwisterpaars.

Mit gleichviel Kühnheit wie Feingefühl inszeniert Jean Stafford das Drama eines Geschwisterpaars.

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Es ist das ideale Geschenk: die Schädel zweier Hirsche, welche, die Geweihe unlösbar ineinander verhakt, in einem Bergfluss ertrunken sind. Ideal – für wen? Für einen Jungen und ein Mädchen, die früher Valentinskarten tauschten?

Ja, denn in Jean Staffords Roman «Die Berglöwin» sind die Karten etwas anders gemischt. Molly und Ralph sind Geschwister, und mehr als das: Kameraden im Elend, beide unansehnlich, schwächlich, mit ihren Brillen und Zahnspangen erst recht dem Spott der Mitschüler ausgesetzt. Wenn am 14. Februar jeweils die gefürchteten Schachteln in den Klassenzimmern auftauchen, in denen Liebesgrüsse an den Schulschatz deponiert werden können, sorgen die beiden tapfer dafür, dass das Geschwister nicht leer ausgeht.

Zehn und acht Jahre zählen Ralph und Molly zu jener Zeit. Den makabren Fund überreicht Ralph der Schwester vier Jahre später – eine erschreckend unbeholfene Versöhnungsgeste, nachdem die symbiotische Geschwisterbeziehung von innen heraus durch und durch vergiftet wurde.

Doppeltes Erbe

«Die Berglöwin», 1947 unter dem Titel «The Mountain Lion» erschienen, gilt als Meisterstück im Œuvre der 1915 geborenen amerikanischen Schriftstellerin, und das Buch reiht sich perfekt in die Perlenschnur literarischer Wiederentdeckungen ein, die man dem Dörlemann-Verlag verdankt. Jean Stafford hat einen Stoff in Händen, der das Potenzial einer klassischen Tragödie birgt; ihre Kunst zeigt sich darin, wie sie diese emotionale Wucht vermittelt, ohne dabei das Mass zu sprengen, welches ihre kindlichen Charaktere vorgeben. Noch wo sie schiere Höllenqual schildert, wird der Ton nie schrill und vordergründig.

Jürgen Dormagen, der zusammen mit seiner Frau Adelheid den Roman ins Deutsche übertragen hat, erwähnt im Nachwort Staffords lebenslange Verehrung für Henry James und Mark Twain: Autoren, die Marksteine setzten, wo es ums Einholen kindlicher Erlebnis- und Gefühlswelten geht, aber auch um die prekäre Herausbildung eines moralischen Bewusstseins, die James ins Zentrum von «Was Maisie wusste» stellt. Stafford trägt dieses doppelte Erbe – von dem ein Reflex in den kontrastierenden Milieus der Romanhandlung aufscheint – auf so kühne wie eigenständige Weise weiter.

Das Paradox jenes moralischen Bewusstseins liegt in seiner unmittelbaren Verflechtung mit dem Verlust der Unschuld, der mit der Einsicht in gewisse Bereiche des Unzulässigen einhergeht. Wenn die kleine Maisie findet, ihre Gouvernante und der neue Liebhaber ihrer Mutter würden doch ein wunderbares Elternpaar für sie abgeben, dann sieht sie zwar mit dem Herzen gut – gemäss geltender Moral aber würde eine solche Verbindung die skandalöse Familiengeschichte des Kindes auf die Spitze treiben. Wenn die zwölfjährige Molly mit aller Selbstverständlichkeit kundtut, sie wolle ihren Bruder heiraten, dann tut sie das in einer schmerzlich berührenden Ahnungslosigkeit; doch ringsum frieren die Gesichter ein.

Freiheit, die trennt

Ralph und Molly wachsen – wie Jean Stafford selbst – in Covina auf, einem gepflegten Vorort von San Francisco. Rose Fawcett, ihre verwitwete Mutter, lebt in Wohlgefallen mit den hübschen älteren Töchtern, während in ihrer Sorge um die zwei hässlichen Entlein stets der Vorwurf mitschwingt, der schon bei ihrem ersten Auftritt im Buch laut wird: «Warum müsst ihr eure Mutter so aufregen?» Sacht und unbarmherzig schiebt die Schriftstellerin diesen Haushalt über die Kante, wo betulich-kultivierte Bürgerlichkeit – die bei den Fawcetts nur mehr durch das beinah zum Altarbild erhobene Porträt des verstorbenen Grossvaters repräsentiert wird – in kleingeistige Bigotterie kippt.

Zur Gegenwelt für die beiden Kinder wird die Ranch ihres Onkels Claude in Colorado; auch beim Entwurf der herben, Weite atmenden Landschaftsbilder greift Stafford auf eigene Jugenderinnerungen zurück. Es könnte ein Eden sein, denn hier gibt es nicht den unsichtbaren Käfig aus schiefen Blicken und giftigen Äusserungen, der Ralph und Molly in Covina umgab. Doch damit zerfällt auch die trotzige Loyalität, welche die Geschwister zusammenschmiedete.

Der Unterschied in Alter und Geschlecht ist ein natürlicher Spaltpilz, der die Entfremdung beschleunigt. Ralph treibt das körperliche Verlangen um, das mit der Pubertät erwacht und ihn mit beissender Scham und Gewissensnöten erfüllt; zugleich aber ist er aus dem Frauenhaushalt in ein männlich geprägtes Milieu entlassen und findet in seinem linkischen, verschlossenen Onkel ein Vorbild, das nicht von vornherein unerreichbar wirkt.

Anders Molly. Auf der Ranch führt ihr Winifred, die schöne Tochter der Haushälterin, Tag für Tag das vor Augen, was sie selbst nie sein wird; die vertrocknete, geduckte Haushälterin das, was aus ihr werden könnte; und in der uralten, unwirschen schwarzen Köchin Magdalene wähnt das weltfremde Mädchen seine wahre Mutter zu sehen.

Auf dem Minenfeld der Seele

Jean Stafford bettet das Drama der Geschwister in Milieuskizzen und Motive, die nicht nur zur sozialen Textur und zum inhaltlichen Reichtum des Buches beitragen; sie können sich auf überraschende Art gegenseitig erhellen oder – wie die zahlreich ins Geschehen eingebundenen Tiere – einen nur angedeuteten symbolischen Raum konstituieren. Nicht zuletzt federn sie auch die schiere Sprengkraft des Kerngeschehens ab: Ralphs Schritt für Schritt begangenen Verrat an der Schwester, die inzestuös gefärbten Momente seiner unberechenbaren Lust, die jäh zutage tretende Gefühllosigkeit des Onkels – vor allem aber das alles überstrahlende schwarze Feuer, das Molly verzehrt.

Die Unbefangenheit, mit der das Mädchen Paarkonstellationen entwirft, mag auf den ersten Blick amüsieren: Für Ralph zieht es neben sich selbst auch Onkel Claude als Heiratskandidaten in Betracht, für den Onkel zudem die halbwüchsige Winifred so gut wie die greise Magdalene. Dahinter aber steht ein abgrundtiefes Unwissen: «Heiraten» ist eine hilflose Chiffre für Liebe, deren Bedeutung sich im Lauf des Geschehens zusehends auflöst. Und mit dem allmählichen Erlöschen der geschwisterlichen Zuneigung wächst Mollys Selbsthass: Sie sieht sich nur mehr «als lange Holzkiste mit Geist darin» und tut – auf manchmal schwer erträgliche Weise – alles, damit ihr in diesem Behältnis nicht zu wohl wird.

Dass Ralph vielschichtiger, empfindsamer, entwicklungsfähiger gezeichnet wird als die Schwester, trägt zu dem ungewöhnlichen Echoraum bei, den «Die Berglöwin» schafft. Während sich um die Figur des Jungen ein durchaus realitätsnaher Entwicklungsroman entfaltet, steht Molly eher wie eine Heldin aus einem attischen Drama im Spiel – eine jedoch, der die Hände grausam gebunden sind, so dass ihre Zerstörungskraft sich nur immer tiefer in sie selber frisst.

Jean Stafford: Die Berglöwin. Aus dem Amerikanischen von Adelheid und Jürgen Dormagen, mit einem Nachwort von Jürgen Dormagen. Dörlemann-Verlag, Zürich 2020. 351 S., Fr. 34.–.

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