Seuchen, Vulkanausbrüche, Hungersnöte – ein tiefes Eintauchen ins Island des 18. Jahrhunderts

In «Quell des Lebens» erkundet Bergsveinn Birgisson die Lebenswelt des alten Island. Indem er effektvoll europäische Aufklärung und isländische Volkskultur aufeinandertreffen lässt, reflektiert sein Roman auch die wirtschaftlichen Aporien der Gegenwart.

Aldo Keel
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Die Würde einer Natur, «die kein Gold mahlt»: der Goðafoss-Wasserfall.

Die Würde einer Natur, «die kein Gold mahlt»: der Goðafoss-Wasserfall.

bna.

Obwohl die Regale unserer Apotheken mit Medikamenten prall gefüllt sind, behelfen wir uns in der Corona-Schlacht mit profanem Händewaschen. Dem Wasser wohne seit heidnischer Zeit ein lebenspendender Zauber inne, den auch kein Bischof auszutreiben vermocht habe, sagt ein Bauer in Bergsveinn Birgissons bemerkenswertem Roman. Wir schreiben das Jahr 1785. Als Heiltrank nutzen die Isländer das Wasser jenes wundersamen «Quell des Lebens», den der Titel nennt. Ein malträtiertes Kind, Personifikation des geschundenen Landes, irrt durch den Text und bettelt unentwegt: «Medikament, Medikament».

Dieses Kind, das sich als Wiedergänger entpuppt, deckt in einer sozialpsychologischen Analyse die Angst als das Lebensgefühl der Epoche auf. Eine Pockenepidemie, die die Bevölkerung um 36 Prozent dezimierte, hatte das Jahrhundert eingeleitet. Der Vulkan Laki, der acht Monate lang Feuer und Asche spie und 25 Prozent der Verbliebenen dahinraffte, beendete es. In Lakis Giftwolke verenden 190 000 Schafe und 28 000 Pferde. 1786 zählt die Kolonie des Dänenkönigs gerade noch 38 000 Menschen. Um zu überleben, kochen diese ihre Schuhe. Der König hatte den Islandhandel monopolisiert und an dänische Kompanien verpachtet. Die Isländer klagen über verdorbene Ware. Monopolbrechern wird im Namen Gottes des Allmächtigen die Hand abgehackt.

Historische und erfundene Figuren

Zur selben Zeit erwägen im fernen Kopenhagen die Spitzen des Finanzministeriums, die arbeitsfähigen Isländer auf das Festland umzusiedeln, während die Alten und Kranken ihrem Schicksal überlassen bleiben sollen. Ähnliche Pläne wurden wiederholt geschmiedet, aber nie verwirklicht. Birgisson bestückt seinen Roman mit historischen und erfundenen Figuren. Zunächst sollen Abgesandte die «terra incognita» vermessen und einen Rapport über den Zustand der Gesellschaft verfassen. Mit modernsten Messgeräten im Gepäck und einer Perücke auf dem Kopf bricht der Magister Magnus Aurelius zur grössten Expedition seines Lebens auf. Der Autor – er lehrt Altnordistik an der Universität Bergen – lässt europäische Aufklärung auf isländische Volkskultur treffen. Er verarbeitet Briefe von Isländern, die ihre Lebensverhältnisse dem vom König eingesetzten «Isländischen Landeskomitee» schilderten. Laut dem Zensus von 1703, der heute zum Weltdokumentenerbe der Unesco zählt, waren damals fast alle Isländer lesekundig.

Der Sendbote der Kolonialmacht beabsichtigt, den Eingeborenen ihren, wie er es nennt, Aberglauben auszutreiben, beisst aber auf Granit: «Die Menschen hier sprechen in wundersamen Wendungen, die wir mit unserer Ratio nicht verstehen können.» Er trifft auf das ganze Ensemble des Volksglaubens, Untote, Riesen, Seeungeheuer – «und in jedem Hof ein Idiot». Im rauen Klima versagen sogar die Messgeräte ihren Dienst, als widersetze sich die Natur ihrer Vermessung. Als Aufklärer betrachtet er die Natur unter dem Gesichtspunkt ihres Nutzens.

Das Kolonialtrauma der Isländer

Die Frage, wie viel Natur der Wirtschaft geopfert werden dürfe, bewegt seit dem frühen 20. Jahrhundert die Nation und ihre Dichter. Birgisson, der sich als Bürger gegen ein projektiertes Kraftwerk engagiert, reiht sich als Romancier in diese Tradition ein, die mit Thorsteinn Erlingssons Gedicht «Am Wasserfall» (1907) begann, das gegen ein geplantes Kraftwerk ausländischer Investoren die Würde der Natur beschwor, «die kein Gold mahlt», und die über Halldor Laxness bis zur Sängerin Björk reicht. Kern des Widerstands ist das Kolonialtrauma der Isländer. Im dystopischen Epilog des Romans ist die Insel von Kraftwerken und Fabriken internationaler Konzerne überzogen. Die Seele des Landes ist verkauft, Island droht zur Müllhalde der Schwerindustrie zu werden.

«Quell des Lebens» wurde zu Recht für Skandinaviens wichtigste literarische Auszeichnung, den Preis des Nordischen Rates, nominiert, der im Oktober vergeben werden soll. Schade nur, dass die Übersetzung recht holprig ausgefallen ist.

Bergsveinn Birgisson: Quell des Lebens. Roman. Aus dem Isländischen von Eleonore Gudmundsson. Residenz-Verlag, Salzburg 2020. 302 S., Fr. 36.90.

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