Anna Katharina Hahn: "Aus und davon"

Von verschiedenen Fluchten

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Das Buchcover von "Aus und davon" auf orangefarbenem Hintergrund.
"Aus und davon" ein Familienroman, der sich um das Verschwinden eines kleinen Jungen dreht. © Deutschlandradio/ Rowohlt
Von Maike Albath · 30.05.2020
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Die Tochter nimmt eine Auszeit und ihre Mutter, soeben vom Ehemann verlassen, soll die schwierigen Enkel in einem chaotischen Haushalt übernehmen. In "Aus und davon" zeichnet Anna Katharina Hahn ein tiefenscharfes Familienpsychogramm und zugleich mehr als das.
Die arme Elisabeth! Die ehemals erfolgreiche Reisebüroinhaberin, längst im verdienten Ruhestand, wurde hinterrücks von ihrem charmanten Ehemann Hinz verlassen. Nach einem Schlaganfall ist er ausgebüxt von seinem "sauren Essigweib", wie sie sich selbst hellsichtig charakterisiert. Langweilige Vernunft, Skepsis, Sinnenfeindlichkeit, dies scheinen ihre herausragenden Eigenschaften zu sein.

Pfannekuchen an der Küchendecke

Ihrer Familie hat Elisabeth Geiger die Demütigung verschwiegen, und nun muss sie sich auch noch mit ihren renitenten Enkeln herumschlagen, weil die Tochter Cornelia, zupackende Krankengymnastin und alleinerziehend, eine lange verabredete Auszeit nimmt.
Cornelia steckt selbst in einer Krise und ist in die USA gereist, während Elisabeth versucht, den chaotischen Haushalt im rauen Stuttgarter Osten zu bewältigen und das Beziehungsknäuel aus Bedürftigkeit, Sehnsucht, eigener Überforderung und tiefer Kränkung in den Griff zu bekommen. Ihr Enkel Bruno ist übergewichtig, wird in der Schule gehänselt und pfeffert gleich beim ersten Mittagessen einen Pfannkuchen an die Küchendecke, seine Schwester Stella steckt in den Wirren der ersten Verliebtheit, zieht mit ihren Freunden herum und begeistert sich vor allem für eine chinesische TV-Serie.
Zum Glück taucht tief im Wäscheschrank eine alte Puppe namens Linsenmaier auf. Die Puppe, die wegen ihrer Füllung mit Hülsenfrüchten zu ihrem Namen kam, gehörte Elisabeths Mutter Gertrud und war während der Weltwirtschaftskrise in Meadville/Pennsylvania der einzige Trost des Mädchens gewesen. Elisabeth beginnt, ihrem Enkel die Geschichte vom Linsenmaier zu erzählen und aufzuschreiben.

Klug austarierte Erzählstränge

Aus und davon heißt Anna Katharina Hahns vierter Roman, der von Fluchten verschiedener Art erzählt und nur auf den ersten Blick wie ein tiefenscharfes Familienpsychogramm mit klug austarierten Zeitebenen, Perspektivwechseln und Erzählsträngen daherkommt. Denn Hahn, Jahrgang 1970, rollt den schwäbischen Pietismus ebenso auf wie die deutsche Auswanderung in die USA und variiert nebenbei auch noch das Genre des Heimatromans.
Das blitzblanke Stuttgart ist ein vielschichtiges Gebilde voller Abgründe. Und wie in jedem ihrer Bücher brodelt im Untergrund immer die Literatur; dieses Mal sind es die Märchen von Wilhelm Hauff und den Brüdern Grimm, aber auch das "Märchen vom dicken fetten Pfannekuchen" und Carlo Collodis Pinocchio.

Märchenhafte Motive

Bruno selbst scheint dem Pfannkuchen verwandt, und wie im Märchen kreuzt nicht nur eine sprechende Puppe seine Wege, sondern auch noch etliche Tiere. Tauben, die Hinz unterm Dach züchtet, ein Dackel, eine versehrte Katze, und Cornelia trifft auf einen fauchenden Pfau, einen Truthahn, ein Gehege voller Meerschweinchen, bis lauter common grackles am Flughafen herumflattern.
Dass eine Reise, die entweder auf einen anderen Kontinent oder in ein fremdes Stuttgarter Viertel führen kann, überraschende Kehrtwendungen mit sich bringt, passt ebenfalls ins Motivrepertoire der Märchen. Die Vergangenheit nimmt eine neue Färbung an, und am Ende haben sich alle verwandelt. Ein bisschen zumindest.

Anna Katharina Hahn: "Aus und davon"
Suhrkamp Verlag Berlin 2020
306 Seiten, 24 Euro

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