Zwischen Schwerkraft und Gnade

Matthias Nawrat über Artur Becker und seinen Roman Drang nach Osten

Online seit: 30. Mai 2020

Ich will schon lange eine Rezension über ein Buch von meinem Freund Artur Becker schreiben. Artur Becker ist ein Schriftsteller, der in der Öffentlichkeit zu wenig Beachtung erfährt. Dabei gehört er zu den wenigen Autorinnen und Autoren deutscher Sprache, die sich in ihren Werken für grundsätzliche Fragen interessieren. Das macht ihn schon fast automatisch zu einem etwas abseitigen Autor. Becker schreibt quer zu den Diskursen – zielt aber gerade so auf den Kern universell-menschlicher Probleme. Dadurch werden die Themen unserer Zeit in einer grundsätzlicheren Einbettung verstehbar. Mich hat Artur Becker in meinem Schreiben und Denken beeinflusst. Ich möchte versuchen zu beschreiben, warum. Insbesondere, weil ich anfangs etwas irritiert war beim Lesen seiner Texte.

Kürzlich ist Artur Beckers neuer Roman, der neunte inzwischen (neben mehreren Gedichtbänden, zwei Novellen und einer Essaysammlung), mit dem Titel Drang nach Osten erschienen. Im deutschsprachigen Raum weckt dieser Titel sofort Assoziationen zu den Expansionsträumen der Nazis, die den Plan einer Eroberung und Kolonisierung des Ostens hegten und diesen Plan mit der industriellen Vernichtung der osteuropäischen Juden sowie mit einer Unterwerfung und Versklavung der in ihren Augen minderwertigen slawischen Völker in die Tat umgesetzt haben. Dies ist eines der Themen des Buches. Drang nach Osten spielt auf einer zweiten Bedeutungsebene aber auch auf die Sehnsucht der westlichen Intellektuellen nach dem Osten an, der Titel verweist nämlich auch auf das, was der Dichter Kenneth White in einem Essay von 1987 ,Geopoetik‘ nannte: eine Verschmelzung von geografischem und geistigem Raum, wie das etwa in Galizien der Fall ist, das zwischen den Weltkriegen in den Werken von Joseph Roth, Bruno Schulz oder Debora Vogel und in der heutigen Zeit von Andrzej Stasiuk, Olga Tokarczuk oder Juri Andruchowytsch poetisiert wurde und wird. Es sind nicht zuletzt die Literatur und ihre mythologisierenden Verfahren, die unsere Vorstellung von der multikulturellen Welt des untergegangenen Mittelosteuropas und später der Welt des homo sovieticus noch heute prägen.

Es ist eine Zeit der marodierenden sowjetischen Soldaten, des Hungers und der Vergewaltigungen. Deutsche werden gejagt und getötet, wenn sie nicht schon geflohen sind.

Der Roman Drang nach Osten spielt größtenteils in dem Dorf Galiny in Masuren, unweit des Ortes Bartoszyce (auf Deutsch: Bartenstein), wo Artur Becker 1968 geboren wurde und wo er die ersten sechzehn Jahre seines Lebens verbracht hat, bevor er 1985 nach Verden an der Aller emigrierte. Es ist eine Landschaft nicht nur der Wälder und Seen, an denen heute reiche Warschauer den Sommerurlaub mit ihren Familien verbringen. Es ist auch die Landschaft der Pruzzen, der Deutschen Ordensritter und