Mit Kotz und Rotz und Jean-Claude Van Damme

In „Zusammen sind wir unbesiegbar“ erzählt Peter Balko von einer Kindheit in der Südslowakei

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir waren acht Jahre alt und bewaffnet. Kapia hatte ein Messer, ich eine Šumbajka. Eine Šumbajka ist ein meterlanger Stock, biegsam und federnd, […], an dessen Ende man ein Stück Lehm oder hart gewordenen Schlamm aufsteckt. Kapia kannte sechs unanständige Wörter und zwei Filmtitel für Erwachsene, ich konnte die Namen aller Heiligen des Kalenders auswendig, auch rückwärts. Kapia tötete jeden Tag mindestens ein Tier, ich putzte mir jeden Abend die Zähne. Kapia spuckte, ich schrieb.
Wir waren die besten Freunde in Novohrad und wussten: Sollte uns einmal etwas trennen, könnte das nur der Dritte Weltkrieg sein.

Leviathan, der Ich-Erzähler des Debütromans von Peter Balko, ist ein etwas kräftiger gebauter Junge und – wie ihn sich alle Eltern wünschen würden – ein braver, fleißiger Sohn mit einer entsprechend „schöne[n] Kindheit“, der seinem aus ganz anderen Familienverhältnissen stammenden Freund Kapia folgt und ihn bewundert. Sie stromern, Tom Sawyer und Huckleberry Finn nicht unähnlich, ganz auf sich allein gestellt, in der beschaulichen Bezirksstadt Losonc/Lučenec im slowakisch-ungarischen Grenzgebiet herum. Doch mit Mark Twain haben die beiden erst Achtjährigen nichts am Hut, sie leben in der Zeit der Videokassetten und verschaffen sich als Zweier-Gang auf den Spuren ihrer Idole, Bruce Lee und Jean-Claude Van Damme, Respekt in der Nachbarschaft. Kapia ist der Motor und Taktgeber aller ihrer Lausbubenstreiche, Pubertätsphantasien und Schauergeschichten: derjenige, der Hunden Wunderkerzen in den Hintern steckt, Prügeleien nicht nur anzettelt, sondern auch gewinnt und die Verlierer – nach alter Tradition der Sieger – anpinkelt.

Während der eine Taten sprechen lässt, füllt der andere mit ihren Geschichten ein Heft nach dem anderen und bietet der geneigten Leserschaft „Ausflüge in die Welt der Aggressionen und Liederlichkeit […], Streifzüge in unerforschte Territorien verbotener Obstgärten“, und lädt sie ein, „in die Gosse hinabzusteigen und mit ihr zu verschmelzen“. Wenn Kapia bei einem Karate-Action-Video und exzessivem Verzehr einer Marzipantorte seinem Freund die Geschichte seines Jagdmessers erzählt, fängt er beim dicksten Mann der Welt, dem Schmied Bálint im Budapest des 19. Jahrhunderts an. Er führt arabeskenreich und nicht selten ordinär, mit Histörchen über den vermeintlich transsexuellen Habsburger Kaiser – der ganz im Sinne der Mehrsprachigkeit der Region und der dargestellten Zeitläufte innerhalb des gleichen Textabschnitts mal auf Deutsch Franz Joseph, mal auf Slowakisch František Jozef, mal auf Ungarisch Ferenc József heißt, – ein zehnjähriges Mädchen mit grauen Haaren und einen deutschen Soldaten nach Island und später ins Dänemark des 20. Jahrhunderts, bevor das Messer schließlich, nach weiteren Umwegen, im Lederkoffer des Urgroßvaters auf dem Dachboden in die Hände des Halbwüchsigen fällt.

Glaubhaftigkeit oder guter Geschmack sind dabei ein Fremdwort für ihn, groteske Figurenzeichnung und provokant-schockierende Vergleiche seine Stärken. So wechseln sich im Roman große Dichter mit sabbernden Säufern ab, mischt sich die erfrischend-naive Sicht der beiden erlebenden Jugendlichen mit der irritierenden Stimme eines erwachsenen Erzählers, der nicht selten in einen grob-vulgären Tonfall verfällt, welcher wohl schon beim Lektorieren des Romans – wie der abschließenden Danksagung des Autors zu entnehmen ist – negativ aufgefallen war. Das kann man mögen, muss man aber nicht.

Was dagegen überzeugt, ist, wie der Roman in Form eines literarischen Wimmelbildes die Vergangenheit, Gegenwart und womöglich eine zu erahnende Zukunft der multikulturellen Südslowakei einfängt. Auch wenn Leviathans und Kapias Universum neben Lučenec höchstens noch fünf Nachbardörfer umfasst, so sind ihre Vorstellungen und Phantasien wunderbar grenzenlos. Märchen und Wirklichkeit verbinden sich derb-humoristisch und stets auf ernstem Grund miteinander. Kapias Erzählwut steht der Leviathans in nichts nach: Vor allem, wenn er die eigene Familiengeschichte, wie etwa im Kapitel „Favágó“ (dt. Der Holzfäller) über den denkwürdigen 7:1 Kantersieg von Debrecen gegen Graz im Jahre 1941, das aus seinem Großvater einen eben nicht zimperlichen Fußballspieler machte, Revue passieren lässt, erlaubt er sich anekdotische Exzesse und nimmt es nicht so ernst mit der historisch-dokumentarisch verbürgten Wahrheit der ungarischen, tschechoslowakischen oder slowakischen Geschichte, auf die durch die Erwähnung lokaler und historischer Persönlichkeiten im gesamten Roman rekurriert wird. Denn er ist, wie sein Autor, einer anderen zeitgemäßeren Geschichtsschreibung, die die gelebte regionale Zusammengehörigkeit auch mit ihren Antagonismen und Rassismen reflektiert, verpflichtet.

Mag sein, dass Peter Balko die in Europa nach wie vor weitestgehend unbekannte Slowakei und seine Heimatstadt nicht in jeder Hinsicht wohlwollend auf die literarische Landkarte schreibt, dafür offeriert er – wenn man den kurzweiligen und den kontemplativen Lesegenuss nicht gegeneinander ausspielt – eine veritable Darstellung eines komplexen sozialen Gefüges, das auch in Zeiten historischer Verwerfungen über eine sich ununterbrochen erneuernde vitale Lebenskraft verfügt. Für die nahe Zukunft wären in den deutschen Verlagsprogrammen weitere Romane zu wünschen, die das textuelle Slowakei-Bild der hiesigen Leserschaft zumindest mit einer solchen Verve weiter differenzieren könnten.

Titelbild

Peter Balko: Zusammen sind wir unbesiegbar. Roman.
Aus dem Slowakischen übersetzt von Zorka Ciklaminy.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2020.
160 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783552059740

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