Heimsuchungen und Leidenschaften

Amir Hassan Cheheltan beschreibt in „Der Zirkel der Literaturliebhaber“ Formen der Erotik

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer schreibt, provoziert. Mit diesem Diktum hat der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki pointiert die Gabe des Schriftstellers benannt. Amir Hassan Cheheltan, 1956 in Teheran geboren, hat einen außergewöhnlichen, provokativen und auch irritierenden Roman vorgelegt, der als aufklärerisch angesehen werden kann, als ein erzählerischer Gegenentwurf zur offiziellen Literaturgeschichte Persiens.

Im Verborgenen tagt – erst unter dem Schah-Regime, dann in den ersten Jahren nach der islamischen Revolution – ein Kreis von Liebhabern der Literatur, Menschen, die sich angeregt über literarische Werke austauschen, aber die darin enthaltene Sittenlosigkeit geistreich oder diskret umgehen – oder leugnen. Literarische Erkundungen können sehr ernüchternd sein, aber das hier entfaltete Panorama homosexueller Lustgefühle und Liebesakte kollidiert mit der eingeforderten religiösen Sittenstrenge und konterkariert jede pädagogische Absicht, die sowohl genusssüchtige Ausschweifungen als auch damit verbundene Abhängigkeitsverhältnisse unterbinden möchte.

Die Erotik in der persischen Literatur wird metaphorisch gedeutet. Überall in der Gesellschaft ist von Politik die Rede, im Verborgenen geht es um Befriedigung und Lustgewinn. Oder etwa nicht? Cheheltan erzählt in stilisierter Form von seiner Kindheit und Jugend, bekennt sich zur Literatur und beschreibt emphatisch seine Geschichte in einem einzigen Satz: „Ich bin zur Welt gekommen, habe eine Kindheit verbracht, mich in die Literatur verliebt und bin gestorben.“ An die literarischen Donnerstagsrunden im Elternhaus erinnert er sich: „Sie versetzen mich in mein ganz persönliches Paradies, das mir mein Liebstes beschert hat: die Freude an der Literatur.“ Einen „unvergleichlichen Genuss“ verschaffte die Literatur den Anwesenden. Der Gastgeber, Cheheltans Vater, „deklamierte in überschwänglichem Ton“. Den Lesungen und dem Gedankenaustausch folgten alkoholische Genüsse. Der junge Amir kommt in die Pubertät, die allenthalben öffentlich wie offiziell schweigsam ignoriert wird. Die „Geheimnisse der Zeugung und Fortpflanzung“ wecken pubertäre Neugier, im Koranunterricht wird mehr über Beten und Fasten gesprochen. Alles andere werde zu gegebener Zeit dargelegt. Im öffentlichen Leben herrschte mehr und mehr Aufruhr, auch darüber sollte nicht gesprochen werden.

Alles Politische wirkt bedrohlich. Das Regime des Schahs wankt, die allmächtige Geheimpolizei büßt ihre Macht ein. Nur die Literatur öffnet Horizonte. Der Erzähler berichtet ungeniert vom sexuellen Spiel mit sich selbst. Zwar nennt der fromme Lehrer das Wort „Masturbation“, ein Begriff, der eine Wirklichkeit bezeichnet, doch dies sei „geheimnisvoll, rätselhaft, mit Scham besetzt“: „Noch heute sehe ich die Augen unseres Lehrers diabolisch aufleuchten, wenn er das Wort gebrauchte und ihm so seine besondere, verbotene Bedeutung verlieh.“ Sexuelle Aufklärung findet nicht statt, nirgends: „Meine Neugier blieb ungestillt, das belastende Gefühl absoluter Einsamkeit stellte sich ein.“ An moralischen Unterweisungen mangelt es nicht. Amirs Vater, der die persische Sprache und Literatur liebt, fürchtet, dass diese Themen den Sohn überfordern könnten. Dieser entdeckt, dass die Literatur vor Themen überquillt, die „weit außerhalb der üblichen Auffassung von Anstand und Moral“ liegen. In den Straßen von Teheran herrscht mittlerweile die islamische Revolution. Amirs Vater ist angespannt, erregt, aufgewühlt. Nur beim Lesen ist er erfüllt von „tiefer Zufriedenheit“: „Solche Momente bescherten ihm die Gewissheit, dass die Literatur stärker ist als jede Revolution.“ Auf Dauer aber kann er sich, seine Familie und auch die Donnerstagsrunde nicht vor der Politik abschotten. Sein Sohn zieht in den Krieg gegen den Irak, steht aber im „Bann der Literatur“. Doch sind die Literaten und Philosophen nur „Ratgeber und Moralprediger“? Manche Texte öffnen „neue Fenster“. Amir beschreibt seinen Zugang:

Ich orientierte mich lieber am Ursprungstext, versuchte dessen Aussage zu erfassen, konnte aber weder zusätzliche Bedeutungen hinein- noch implizierte Bedeutungen herauslesen. Meine Maßstäbe waren vielmehr das Alltagsleben, der erste Eindruck, Gebote, Bedingungen, die dem unmittelbaren Textverständnis vielleicht entgegenstanden.

Die „moralische Deutung des Werks“ beachtet er nicht. Die Donnerstagsrunde indessen scheint an einem aufrichtigen Gespräch nicht interessiert zu sein, schon gar nicht, wenn „Meister der Obszönität“ ohne Wertung gelesen werden sollten. Der junge Leser vermag nicht, die Deutlichkeit sexueller Schilderungen auszublenden. Er liest, was er liest: „Ich wusste damals instinktiv, dass die Geschichten exakt das ausdrückten, was in ihnen geschrieben stand.“ In „mystischen Schriften“ gebe es oft eine „unverblümte Wortwahl“, die Amir – anders als der Lesekreis seines Vaters – nicht metaphorisch auffassen wollte.

Auch die homoerotische platonische Liebe sei, so der Autor, in der „iranischen Philosophie“ oft präsent. Die „Darstellung angeblich widerwärtiger, schäbiger oder makabrer Inhalte“ werde in der klassischen persischen Literatur nicht unterbunden: „Die Dichter konnten sich damals nicht einfach in den Dienst einer Sache wie allgemeinen Anstands stellen, den es damals vermutlich gar nicht gab. Sie sahen den Menschen so, wie er war, nicht so, wie er sein soll.“ In der heutzutage – und man kann dies nicht oft genug betonen: völlig zu Recht – weithin geächteten und strafbaren Praxis der Päderastie sahen einige Dichter und religiöse Mystiker unbegreiflicherweise nichts als die „Liebe zur Schönheit“: „Wer schöne Menschen liebte, lebte folglich nach Gottes Ethik.“ Cheheltan schreibt weiter: „Die Hinweise auf Homosexualität in der klassischen persischen Literatur blieben deshalb so gut wie unentdeckt, weil im Persischen für die dritte Person nur ein Pronomen verwendet wird. Spuren, die das Geschlecht der geliebten Person verraten, finden sich dennoch.“ Der Autor gibt ausführlich Beispiele dazu. Er fragt rhetorisch: „Wurzelt Liebe nicht im Wunsch nach Vergnügen, nach Freude, Genuss?“ Weiterhin heißt es: „Das Staunen über iranische Dichter und ihre Werke nimmt damit kein Ende.“ Die offizielle Exegese sei „Heuchelei“, die Literatur liefere das „gedankliche Modell für unser Zusammenleben über alle Epochen hinweg“. Blühten also der ungehemmte platonische Eros und die hellenistische Lebensart der Antike mit ihren sexuellen Eskapaden ebenso in Persien auf?   

Von Strukturen der Macht und politischen Machtverhältnissen ist in dem Roman auch die Rede, doch an Missbrauch von Macht in sexuellen Abhängigkeitsverhältnissen scheinen die betrachteten Mystiker nicht gedacht zu haben, auch wenn dieser in den ausschweifenden Schilderungen homoerotischer Leidenschaften zu Jünglingen überdeutlich zutage tritt. Der Eros entfaltet sich nicht in der Freiheit zwischenmenschlicher Begegnungen unter Erwachsenen, im Gegenteil, es sind gefährliche Liebschaften aus vergangenen Epochen, in denen sichtbar wird, dass im Begehren des Liebhabers die begehrte Person Objektcharakter annimmt. Die Rezeption und kritische Reflexion literarischer Texte, so emphatisch diese Lustbarkeiten und Liebesverhältnisse jeglicher Art aus allen Zeiten und Kulturen auch anmuten mögen und geschildert werden, ist ein Desiderat der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung.

Ganz überraschende Einblicke in Formen der klassischen persischen Literatur bietet dieser Roman – und mahnt aus europäischer Perspektive dazu, entsprechende Texte in der hellenistischen Literatur und Philosophie neu zu lesen und die Rezeption dieser, etwa in der Weimarer Klassik, im George-Kreis und in der Reformpädagogik, kritisch zu überdenken. Amir Hassan Cheheltan zeigt weithin unbekannte Dimensionen der Literatur des Nahen Ostens. Sein Buch bietet so gesehen reichlich Diskussionsstoff.

 

Titelbild

Amir Hassan Cheheltan: Der Zirkel der Literaturliebhaber.
Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich.
Verlag C.H.Beck, München 2020.
252 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783406750908

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