Liebe in Zeiten des Vietnamkrieges

Richard Russos Roman „Jenseits der Erwartungen“ zeigt die Schattenseiten des amerikanischen Traums

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Ende war es kein Mord. Sonderlich geheimnisvoll war es ebenfalls nicht. Trotzdem hätte die Kerngeschichte von Richard Russos neuem Roman Jenseits der Erwartungen auch der Stoff für eine Kriminal- oder Mordgeschichte sein können. Und doch bezieht er einen Großteil seiner Spannung aus dem ungeklärten Verschwinden der gemeinsamen Freundin Justine (Jacy) Calloway im Jahre 1972, was selbst nach 44 Jahren das Gefühlsleben der drei Freunde Lincoln, Mickey und Teddy noch zu beherrschen scheint. Sie sind alle um das Jahr 1950 geboren, kommen aber aus ganz unterschiedlichen sozialen Milieus und kulturellen Landstrichen der Vereinigten Staaten. Lincoln Moser ist ein Immobilienhändler aus Arizona, Teddy Novak ein Kleinverleger aus Syracuse und Mickey Girardi ein etwas verplanter Tunichtgut, Musiker und Toningenieur aus Cape Cod in Massachusetts. Sie alle waren auf dem humanistischen Minerva College in Connecticut, und sie alle waren in ihren Studienjahren in Jacy Calloway verliebt – bis sie unter rätselhaften Umständen verschwunden und nie mehr aufgetaucht ist.

Tatsächlich hat der Roman, was die Auflösung dieses Verschwindens anbelangt, eine Pointe, die hier nicht verraten werden muss. Sie ist auch nicht das Hauptthema, sondern stellt gewissermaßen das Bindeglied zwischen den erzählten Lebensgeschichten und Zeitläuften dar. Der Leser begegnet den drei Freunden zunächst im Jahr 2016, also 44 Jahre nach dem Verschwinden von Jacy im Ferienhaus von Lincoln in Chilmark auf Martha’s Vineyard, das schon seinen Eltern gehört hat und das er nun eigentlich zu verkaufen beabsichtigt. Obwohl die drei nie so richtig den Kontakt verloren haben, verläuft das gemeinsame Wochenende in Lincolns Ferienhaus für die 66jährigen einigermaßen chaotisch: Aus der sonst mit der Insel assoziierten Behaglichkeit einer angenehmen Sommerfrische für die selbsternannte amerikanische liberale Elite wird in Russos Darstellung das Refugium erstarrter Leben, ruhiggestellter Bedürfnisse und aus den Augen verlorener Träume. Den Immobiliencrash von 2008 hat Lincoln zwar einigermaßen gut überstanden, doch quälen ihn seitdem Fragen, was denn eigentlich Erfolg im Leben ausmacht und wofür genau man ihn braucht.

Dem wohlanständigen, im Grunde privilegierten (vergangenen) Leben der drei entlang der amerikanischen Vorstellung von einem Recht auf Glück steht eine innere Leere, Hilf- und Ratlosigkeit gegenüber, deren Wurzeln nicht nur im hier erzählten persönlichen Verlust einer geliebten Freundin liegen. Russo koppelt das Verschwinden von Jacy an die Zeit des Vietnamkrieges, besser gesagt an den Eintritt der USA in den Vietnamkrieg und die sogenannte Einberufungslotterie im Dezember 1969.

Die abwechselnd mit den Namen der Protagonisten überschriebenen Kapitel bieten nun nicht jeweils die homodiegetische Ich-Erzählung von Lincoln, Mickey oder Teddy, sondern erlauben es der grundsätzlich gleichbleibenden Erzählinstanz die Wahrnehmungsperspektive auf die jeweilige Person zu konzentrieren. Wechselnd werden dabei auch neben dem Jahr 2016 die erzählten Zeitebenen 1969 und 2008 – das Jahr des Börsen- und Immobiliencrashs in den USA – erfasst, die zusammengenommen die bewusstseins- und persönlichkeitsbildenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebenswelten der drei Freunde konturieren.

Gerade in dieser Zusammenstellung unterschiedlicher Zeitebenen noch vor der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im November 2016 erweist sich Russos fabelhafte Fähigkeit, die Traumata einer ganzen Generation zu erfassen, in der sich symptomatisch die Fragilität gesellschaftlicher Verhältnisse verdichtet. Denn obwohl die drei immer wieder ihre alte Freundschaft heraufbeschwören wollen, scheitern sie letztlich an ihrer eigenen emotionalen Kälte und Unsicherheit, an der fehlenden Empathie gegenüber anderen und Andersdenkenden und schließlich auch an der fehlenden Bereitschaft, vom Leben mehr zu verlangen als nur das, was vorgezeichnete Wegmarken in Aussicht stellen und stellten. „Wie lange das her war, dieses Hochgefühl“, so räsoniert Teddy an einer Stelle, „und von so kurzer Dauer. Wie das Leben selbst – schon wieder vorbei, bevor man es ganz erfassen konnte. Ein Beschiss, im Grunde.“

Russos scheinbar leicht erzähltes und ästhetisch – ohne dass das negativ gemeint ist – unambitioniertes Buch über den amerikanischen Traum besticht durch einen Realismus, in dessen inhaltlichen Mittelpunkt die düsteren Schattenseiten eines Glücksversprechens stehen, deren tragische Dimension die drei Protagonisten auch nur in der Rückschau erkennen können. Das Spannungsverhältnis von Zukunftshoffnung, wie sie die erzählte Zeitebene bis zum Vietnamkrieg und Jacys Verschwinden dominiert, und einer ernüchterten und ernüchternden Gegenwart wird nirgends so deutlich wie in jenem melancholischen Song Chances are… von Johnny Mathis, der 1957 die amerikanischen Charts eroberte und 1998 sogar in den Grammy Hall of Fame Award aufgenommen worden ist. Im amerikanischen Original trägt Russos Roman auch genau diesen Titel Chances are…. Zeilen und Versatzstücke aus diesem Song, in dem es eigentlich um eine frühe und starke Liebe geht, ziehen sich leitmotivisch durch den Roman und werden meist von Mickey gesungen oder gesummt – und rekurrieren natürlich auf Mickeys besonderes Verhältnis zu Jacy, wenn es etwa heißt: „Guess you feel you‘ll always be the one and only one for me / And if you think you could / Well, chances are your chances are awfully good / The chances are your chances are awfully good.“

Dass am Ende nicht nur Jacys Zukunftsaussichten nicht so blendend gewesen und schon gar nicht in Erfüllung gegangen sind, sondern auch die Lebensgeschichten der drei Freunde Lincoln, Mickey und Teddy jenseits der Erwartungen geblieben sind – und eben nicht, wie sie noch in Matthis’ Song umgangssprachlich als  „sehr wahrscheinlich gut“ bezeichnet werden – ist die bittere Erkenntnis, zu der Russo seine mittleren Helden kommen lässt.

Titelbild

Richard Russo: Jenseits der Erwartungen.
Aus dem Englischen von Monika Köpfer.
DuMont Buchverlag, Köln 2020.
432 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783832181154

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch