Neues zur Politik und Poetik der Restauration

Anna-Lisa Dieters Analyse der „Entstehung des Realismus“ in den frühen Romanen Stendhals

Von Oliver KohnsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Kohns

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stendhal wird in der romanistischen Literaturgeschichtsschreibung schon seit langem als Vorreiter im Übergang von der Romantik zum Realismus behandelt. Pointiert findet sich diese Perspektive in Hugo Friedrichs klassischer Analyse Drei Klassiker des französischen Romans (1961). Mit Blick auf Stendhals Bestimmung des Romans in Le Rouge et le Noir schreibt Friedrich, hier handele es sich um den „Augenblick, als der Roman der Inbegriff einer phantasiefreien Wirklichkeitserfassung wurde und damit den Geschmack des Märchenhaften, Erfundenen, Müßigen verloren hatte“. Damit wird einerseits ein scharfer Bruch mit den vorausliegenden Traditionen der romantischen Literatur vollzogen. Andererseits wird der Inhalt des Romans an einem „rücksichtslosesten Wahrheitsbegriff“ ausgerichtet – und so die Tür für Parallelisierungen zwischen Romanhandlung und sozialhistorischen Entwicklungen weit geöffnet.

Anna-Lisa Dieters Monographie Eros – Wunde – Restauration ist ein ambitionierter und lesenswerter Versuch einer grundsätzlichen literaturhistorischen Neubewertung der (frühen) Romane Stendhals. Die Studie – es handelt sich um die überarbeitete Fassung einer Dissertation – stellt im Wesentlichen die Lektüre der ersten beiden Romane Stendhals – Armance (1827) und Le Rouge et le Noir (1830) – dar, denen jeweils umfangreiche Kapitel gewidmet sind. Die beiden Lektüren sind eng miteinander verzahnt und in einen Zusammenhang gebracht, der nicht einfach motivisch ist. Das übergreifende Thema der Arbeit ist, wie der Untertitel verrät, die „Entstehung des Realismus“: Es geht, mit anderen Worten, um eine neue Perspektive auf den epochalen Umbruch, der sich in den Texten Stendhals vollzieht.

In der knappen Einleitung beschreibt Dieter ihr Vorhaben. „Stendhals Zeitgenossenschaft, seine Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart, prägt sich nicht allein der erzählten Geschichte auf“, schreibt Dieter. „Sie geht ein in die poetische Verfasstheit der Romane, deren Beziehung daher nicht auf eine scharf konturierte Abfolge von romantischen hin zu realistischen Schreibverfahren verengt werden kann“. Damit werden beide genannten Prämissen Friedrichs konsequent negiert: Weder wird ein scharfer stilistischer oder poetologischer Bruch zwischen Romantik und Realismus angenommen, noch werden die Romane als thematische Spiegelung der französischen Zeitgeschichte gelesen. Indem die Geschichte als Teil der „poetischen Verfasstheit“ interpretiert werden soll, geht es darum zu zeigen, dass die literarische Struktur der Texte von der Politik ihrer Zeit geprägt ist (und nicht bloß ihr Inhalt).

Die Arbeit verzichtet programmatisch auf ausführlichere methodologische Vorüberlegungen. Sie ist im besten Sinne von dem geprägt, was sich mit Paul de Man als resistance to theory beschreiben lässt: Die Romane werden einem close reading unterzogen, in welchem kaum je auf eine allgemeinere Ebene ausgewichen wird. Selbst die Passagen über die Poetik des Realismus oder über Stendhals Beziehung zur Restauration sind immer textnah: Wenn historischer Hintergrund oder diskursiver oder literarischer Kontext hinzugezogen wird, dann stets mit Blick auf die Lektüre einer konkreten Passage. Resistance to theory bedeutet hier keineswegs die Absenz ‚theoretischer‘ Referenzen: Im Gegenteil werden zahlreiche Texte von Theoretiker*innen zitiert – von Erich Auerbach über Maurice Blanchot bis zu Jacques Derrida und Ernst Kantorowicz, sowie durchgehend Arbeiten der Psychoanalyse Freuds und Lacans –, aber es gibt nicht so etwas wie eine allgemeine ‚Theorie‘ des Realismus, die sich umstandslos auch auf andere Romane applizieren oder adaptieren ließe. Auch von dissertationsüblicher Ausbreitung von akademischer Belesenheit und Gelehrtheit ist nur wenig zu bemerken: Alle Referenzen haben einen sinnvollen Bezug auf die behandelten Romane und helfen dabei, an diesen neue Facetten zu beleuchten und neue Perspektiven über sie zu eröffnen.

Dieters Lektüreverfahren ist dabei induktiv: Einzelne Passagen oder Motive aus den besprochenen Romanen werden mit Kontexten angereichert und vielschichtig interpretiert, so dass die „Mikrostrukturen gestifteter und verweigerter Bedeutung“ (S. 12) langsam und mühsam herausgearbeitet werden. Das Verfahren der Anreicherung mit Bedeutungen, Kontexten und Referenzen gleicht dabei in gewisser Weise der Kristallisation, die für Stendhal das Symbol für Liebe darstellt.

Das erste Kapitel widmet sich Stendhals Roman Armance, dem Roman über den eigenwilligen, liebesunfähigen Aristokraten Octave. Stendhal hat in einem Selbstkommentar auf die – im Roman nie explizit angesprochene – Impotenz der Hauptfigur als dem verborgenen Zentrum des Textes hingewiesen. In Dieters Analyse wird die Abwesenheit sexueller Potenz mithilfe der Titelbegriffe ihrer Studie, Eros – Wunde – Restauration, trianguliert. Das Thema der körperlichen Ganzheit und Unversehrtheit spielt in der Restauration unmittelbar eine politische Rolle, insofern die Rückkehr zum status ante quo hier immer wieder metaphorisch als „Heilung“ der durch die Revolution verursachten Wunden adressiert wird. Vor diesem Hintergrund wird Octaves Impotenz lesbar als eine literarische Ausgestaltung der Unmöglichkeit – oder eher der aktiven Verweigerung –, die politischen Wunden zu schließen und zu heilen.

Besonders interessant ist Dieters Analyse der Verschiebung in den Strukturen des Begehrens („Eros“), die aus dieser Verweigerung folgen. Octave weicht dem realen Körper der geliebten Armance aus und wendet sich stattdessen dem Signifkant ihres Namens zu: Er liebt die bezeichnenden Buchstaben eher als den Körper der Frau. Dieter beschreibt diese Umkehr des Begehrens als Exkarnation, d.h. als Übertragung von Fleisch in Wort. Damit wird erkennbar, dass der Roman nicht nur eine literarische Reflexion der Restauration darstellt, sondern vor allem auch einen „möglichen Anfang eines modernen Denkens in der Literatur“, in dem Tod und Sprache „untrennbar verschlungen sind“ (S. 77).  

Im Kapitel zu Le Rouge et le Noir ist der Angelpunkt von Dieters Analyse die originelle Idee, den Protagonisten Julien Sorel als „säkularen Christus“ zu interpretieren. Daraus folgt eine neue Perspektive nicht nur auf literarische Themen, Symbole und Motive im Roman, sondern auch auf die Struktur, d.h. auf den Zusammenhang dieser Elemente. Ziel der Analyse ist: „Auerbachs Deutung des Stendhal’schen Realismus einer Revision zu unterziehen und das Fortwirken des Figuralschemas herauszuarbeiten“. Dieses Vorhaben gelingt insgesamt sehr überzeugend. Indem Dieter die Wirkung des Figuralschemas in Le Rouge et le Noir aufzeigen kann, ermöglicht sie eine neue Perspektive auf das narrative Organisationsprinzip des Romans. Zugleich eröffnet die Analyse einen Kosmos an intertextuellen Referenzen zu beiden Romanen. So werden Bezüge nicht nur zum Neuen Testament, zu Choderlos de Laclos, Claire de Kersant und zahlreichen anderen Autor*innen und Texten ausgeführt und für die Lektüre fruchtbar gemacht.

Alles in allem entwirft die Studie in mehrfacher Hinsicht ein frisches Bild von Stendhals Romanen und dem darin entfalteten Realismus. Die intertextuellen Querlektüren weisen das hergebrachte Pathos des kompletten Bruchs mit der Tradition zurück und zeigen auf, inwiefern gerade die produktive, abweichende Aneignung der romantischen Tradition Stendhals Poetik ausmacht. Darüber hinaus verschiebt sich der Blick, indem die Rolle der weiblichen Protagonisten neu bewertet wird. Le Rouge et le Noir, so die Pointe Dieters, ist eigentlich nicht so sehr die Geschichte des sozialen Aufsteigers Julien Sorel, sondern vielmehr die Geschichte der Frauen, die seinen Aufstieg möglich gemacht haben und ihn dabei lenken.

Es ist eine durchweg angenehme und bereichernde Tätigkeit, den Lektürebewegungen dieser Arbeit nachzugehen. Bedauerlich bleibt dabei lediglich die aus der Methodik des strengen close reading folgende Beschränkung auf nur zwei Romane. So ist es schade, dass die Studie nicht wenigstens auch La Chartreuse de Parme behandelt, oder dass nicht ein vergleichender Blick etwa auf Balzac, Flaubert, Dickens oder Keller entwickelt wird. Es wäre zu wünschen, dass Eros – Wunde – Restauration zu solchen weiteren Arbeiten anregen könnte.

Titelbild

Anna-Lisa Dieter: Eros - Wunde - Restauration. Stendhal und die Entstehung des Realismus.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2019.
284 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783770560028

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