Verschollene Bilder und das Leben der Menschen, die sie aufbewahrten

Zwischen Geschichte und Fiktion erzählt Isabelle Mayault in ihrem Debütroman von den lange verlorenen spanischen Bürgerkriegsfotos von Robert Capa, Gerda Taro und David „Chim“ Seymour

Von Felix HaasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Haas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die 1986 geborene französische Journalistin Isabelle Mayault hat 2019 mit Eine lange mexikanische Nacht ein beachtliches Debüt vorgelegt, welches noch im selben Jahr durch den Prix Ulysse du Premier Roman geehrt wurde. Ihr Roman ist nun in deutscher Übersetzung von Jan Schönherr im Rowohlt Verlag erschienen.

Mayault kam die Idee zu ihrem Roman 2010, beim Lesen eines Artikels der amerikanischen Wochenzeitung „The Nation“ über das Wiederauftauchen eines seit dem zweiten Weltkrieg verschollenen Koffers in Mexiko-Stadt, welcher mehr als 4500 Negative und Fotos aus dem Spanischen Bürgerkrieg beinhaltete. Diese bislang größtenteils unbekannten Arbeiten von Robert Capa, Gerda Taro und David „Chim“ Seymour vervollständigten nicht nur ihr Werk und dessen Beurteilung, sondern halfen auch urheberrechtliche Fragen zu bereits bekannten Fotos zu klären.

Capa, Taro und Chim haben das Genre der Kriegsphotographie praktisch erfunden und sind alle auf tragische Weise durch ihre Arbeit umgekommen. Taro starb noch 1937 in Spanien, Capa und Chim in den 50er-Jahren in Indochina und im Suez Krieg.

In Mayaults Roman ist es selbst einem in Fotografiegeschichte bewanderten Leser nur schwer möglich alle Grenzen zwischen wahren Geschehnissen und Fiktion zu greifen. Sicher finden sich alle drei Fotografen in ihrem Buch wieder, ebenso wie Robert Capas Bruder Cornell, der die Bilder schließlich 2011 in dem von ihm gegründeten International Center of Photography (ICP) in New York ausstellte. Im Fokus des Romans stehen jedoch größtenteils jene Menschen, die den Weg des Koffers zwischen seinem Verschwinden am Anfang des Krieges und seinem Wiederauftauchen 2007 bestimmten. Es sind die offenen Fragen jener Periode, für die Mayaults Fiktion einsteht.

Erzählt wird der Roman von Jamón, der nach dem Tod seiner Cousine Greta den Koffer von ihr erbt. Weder Jamón, noch Greta, oder deren Mutter Maria, die vor ihr im Besitz des Koffers war, redeten mit irgendjemand anderem als seinem jeweiligen nächsten Erben über ihn. Ein Schweigen, das Jamón erst spät brechen sollte.

Nach einem ersten Teil, der Gretas Leben und Tod in den 60er- und 70er-Jahren fasst, erzählt ein zweiter von Maria, deren Freundin Olivia und ihrem Liebhaber, dem Fotografen Chim, im Europa der späten 30er- und frühen 40er-Jahre. Noch vor Maria, verlässt Olivia Mexiko, um mit Verwandten im Baskenland zu leben. Dort schließt sie sich schnell den Republikanern an, und wird so Teil des aufflammenden Spanischen Bürgerkriegs. In einem Kloster, wo sie Verletzte betreut, lernt sie Chim kennen, der ihr schließlich den Koffer übergibt. Kurz bevor Maria nach Mexiko zurückzieht, wird sie dann zur nächsten Besitzerin.

In einem letzten Teil erzählt Jamón von seinem Leben in Mexiko-Stadt, von seiner Ehe und Scheidung und von dem langen Weg der Fotos zurück in die Öffentlichkeit. Bei einer Vernissage in Mexiko lernt er den Fotografieprofessor Francis Blanche kennen, und offenbart ihm, dass er im Besitz der verschollenen Fotos ist. Blanche ist mit Capas Bruder Cornel verbunden, welcher seit Jahrzehnten nach den Negativen sucht. Doch geht Jamón ihren weiteren Kontaktversuchen aus dem Weg. Erst Jahre später bewegt ihn die amerikanische Fotografin Désirée Wonton dazu, Cornel zu treffen und die Fotos der Öffentlichkeit nicht länger vorzuenthalten.

Mayaults Roman ist durchzogen von einem Impetus, der den Leben von Capa, Taro und Chim durchaus gerecht wird. Die Autorin führt uns durch acht Jahrzehnte, vom Pariser Rive Gauche der drei Fotografen, über das Lissabonner Bairro Alto und Mexiko-Stadts Coyoacán, bis in die New Yorker Upper West Side. Wir werden Zeuge von Mexikos „Nacht von Tlatelolco,“ in der Greta 1968 ihren Mann kennenlernt und durchleben Bombardements des Spanischen Bürgerkriegs genauso wie Politik in Vichy, Frankreich. Zu all den Orten und Ereignissen, die Mayault in ihren kaum mehr als zweihundert Seiten aufführt, kommt eine Vielzahl bunter Figuren. Besonders die drei Frauen, Olivia, Maria und Greta, legen einen Wagemut an den Tag, den einzig der Ich-Erzähler Jamón zu missen scheint. „Du brauchst mehr Pfeffer im Leben, Jamón“, rät ihm Greta noch vor ihrem Tod und sorgt danach, indem sie ihm den Koffer vererbt, selbst dafür, dass er denselben bekommt.

In klaren, einfachen Sätzen fasst die Autorin die Magie ihrer Orte. Besonders Mexiko mit seinen Tlayuda Verkäufern von Coyoacán und Caféterrassen von Veracruz wird wunderbar plastisch gezeichnet. Untermalt wird Mayaults Welt von geschickt gewählten Bildern: „…sandiger Boden hier und da getränkt von Wasser, wie die Bluse einer Frau bei Milcheinschuss,“ oder „…ob sie donnern würde wie ein Tsunami oder nur leise zischen wie eine Flasche Mineralwasser beim ersten Öffnen.“ Trotz all dem, bleibt uns die Innenwelt einiger ihrer Helden ein stückweit verschlossen. Sicher ist dies, nebst der schieren Fülle an Orten, Figuren und Ereignissen auch der Erzählperspektive geschuldet. Wie hätte Jamón zum Beispiel wissen sollen, was Olivia für Chim empfand? Was er uns als Erklärung offeriert ist lediglich, „…dass Olivia sich in ihn verliebte. Wie hätte sie auch anders können, in diesem Krieg, in dem man sich so fühlte, als hielte man das Ohr beständig an ein riesenhaftes Stethoskop?“

Eine lange mexikanische Nacht reißt uns mit in eine vergangene Zeit weit entfernter Orte, die bevölkert sind von Menschen voller Leben. Wie bei einer Reise in der jeder Tag gefüllt ist mit so vielen Ereignissen und Menschen wie normalerweise ganze Wochen, können wir Mayault verzeihen, dass auch sie nicht alles bis ins Letzte reflektiert, was dem Leser auf seiner Reise passiert.

Mayault beteuert in ihrem Anhang, ihr Buch sei eine „Hommage… an den Mut, den Einsatz und den Humanismus der drei Fotografen“, doch ist es auch eine Einladung an den Leser, „…sich so lebendig zu fühlen, wie man es sonst nur viel zu selten [tut].“ Mayault schreibt nicht, wie Olivia malt, ausschließlich „für Augen, die heute nicht mehr sind.“ Die Magie ihres relativ kurzen Debüts weckt Fernweh, Lust auf Leben und lässt vielleicht den einen oder anderen Leser sich die Frage stellen, ob Greta ihm oder ihr ähnliches raten würde, wie ihrem Cousin Jamón: „Du brauchst mehr Pfeffer im Leben“.

Titelbild

Isabelle Mayault: Eine lange mexikanische Nacht.
Aus dem Französischen von Joan Schönherr.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020.
288 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783498001469

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