Schmerz ist die Waffe, die nicht tötet: vierundvierzig Geschichten vom Krieg

Zwei Männer, die Feinde sein müssten und die der Tod ihrer Kinder zusammenschmiedet: Davon erzählt Colum McCanns kunstvoller Roman «Apeirogon». Rau, nackt und aufwühlend sind dagegen die 43 Zeugnisse aus dem Bürgerkrieg in Jemen, die Bushra al-Maktari gesammelt hat.

Angela Schader
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Colum McCann fasst den Nahostkonflikt in ein kunstvolles Kaleidoskop – Bushra al-Maktari sucht ihr Material in Jemen zwischen Trümmern und Scherben.

Colum McCann fasst den Nahostkonflikt in ein kunstvolles Kaleidoskop – Bushra al-Maktari sucht ihr Material in Jemen zwischen Trümmern und Scherben.

Mohammed Hamoud / Getty

Nirgendwo ausserhalb Israels wurde in den 1980er Jahren die blau-weisse Landesfahne häufiger verkauft als in Nordirland. Während sie über den Häusern der englandtreuen Loyalisten wehte, hissten die Republikaner die palästinensische Flagge; hüben zierte das Porträt Golda Meirs, drüben dasjenige Arafats die Mauern.

Der irische Autor Colum McCann wurde zwar in Dublin geboren, war aber von Kind auf mit dem Nordirlandkonflikt vertraut; seine Mutter stammte aus dem County Derry, wo er als Bub alljährlich die Sommerferien verbrachte. Mehr als einmal wurde er Zeuge, wie seine Cousins an Checkpoints angehalten, ihr Auto nach Waffen und Sprengstoff durchsucht wurde.

1001 Kapitel

Dass McCann sich vor einigen Jahren einer Studienreise durch Israel und die palästinensischen Gebiete anschloss, verdankte sich auch jener seltsamen Wahlverwandtschaft zwischen den beiden Ländern. Und dass er «Apeirogon», den aus der Reise entstandenen Roman, als Reverenz an «Tausendundeine Nacht» gestaltete, hat mit der lichten Seite der Märchensammlung ebenso viel zu tun wie mit der dunklen. Es geht um zwei Männer, die eigentlich erbitterte Feinde sein müssten, weil ihre Töchter Opfer des Konflikts wurden – und die den sinnlosen Tod der Kinder überwinden, indem sie in gemeinsamen Auftritten von ihren Erfahrungen berichten.

Diesen Männern – dem Israeli Rami Elhanan und dem Palästinenser Bassam Aramin – hat McCann während seiner Reise zugehört; auf die Begegnung folgte eine mehrjährige Recherche, in der er einen Wissensschatz zusammentrug, der weit über die desolate Faktenlage des Nahostkonflikts hinausreichte. Die Vorstellung des Apeirogons – eines Polygons, das sich aus einer unendlichen Zahl gleich langer Seiten zusammensetzt – soll zugleich der Komplexität des Konflikts und der Vielfalt der ins Buch eingebrachten Inhalte Rechnung tragen.

Über das vom Street-Art-Künstler Banksy eingerichtete «Walled Off Hotel» in Jerusalem hat McCann sich ebenso informiert wie über die Drinks, die in einem Golfklub während der britischen Mandatszeit serviert wurden. Man erfährt, dass die Flugtechnik der Fregattvögel für die Entwicklung einer israelischen Kampfdrohne analysiert wurde und dass palästinensische Kämpfer sich einmal von Flugdrachen, deren Propeller mit Rasenmähermotoren angetrieben wurden, zur nächtlichen Attacke auf ein israelisches Militärlager tragen liessen.

Sein Material verflicht McCann in zweimal fünfhundert Kapiteln, die manchmal einige Seiten, manchmal nur einen Satz umfassen oder ein Foto zeigen, mit den Geschichten von Bassam, Rami und ihren Familien. Die Kapitel werden zuerst auf-, dann absteigend nummeriert, als 1001. Kapitel steht in der Mitte des Buches, möglicherweise literarisch etwas umgestaltet, die Erinnerung an die erste Begegnung des Autors mit den beiden Männern. Unmittelbar flankiert wird das knappe Stück von deren eigenen Lebensberichten, die McCann aus mehreren Tonaufnahmen zusammengeschnitten hat; in den voraufgehenden und den folgenden Kapiteln arbeitet der Schriftsteller freier, aber immer faktennah mit dem gesammelten Stoff.

Schmerz als Waffe

Smadar Elhanan war dreizehn, als sie 1997 zusammen mit zwei Freundinnen bei einem Selbstmordattentat in Jerusalem umkam. Im selben Jahr wurde Abir Aramin geboren; sie starb 2007 an der Schädelverletzung, die ihr das Gummigeschoss eines israelischen Soldaten zugefügt hatte. Smadar: keck aufgeworfene Oberlippe, grosse, dunkle Augen, deren wacher, herausfordernder Blick das Kindergesicht dominiert. Abir: eine dunkle Strähne, die sich aus dem sauber gescheitelten Haar gelöst hat, seltsam verschattet der Ausdruck, das Lächeln nur zart in den Mundwinkeln angedeutet. Begabte Mädchen, geliebt, unmöglich zu vergessen.

Rami Elhanan war im Sechstagekrieg und im Jom-Kippur-Krieg an der Front gewesen; dass er getötet hatte, vielleicht einen, vielleicht mehrere Menschen, erzählte er der Tochter nie. Bassam Aramin hatte schon als Schulbub die israelischen Soldaten provoziert. Als er und seine Freunde später drei alte Handgranaten nach israelischen Militärjeeps warfen, brachte das den Siebzehnjährigen für sieben Jahre ins Gefängnis, auch wenn die Geschosse nur noch ein lahmes Zischen von sich gegeben hatten.

Rami wollte nach dem zweiten Kriegseinsatz nur mehr «ein israelisches Leben (. . .) Einen guten Job, eine Hypothek, eine sichere Strasse mit viel Grün, kein Klopfen an der Tür, keine mitternächtlichen Anrufe.» Und bitte keine Politik. Doch Smadars Tod zerfetzte diese Sicherheit – und bald auch den blickdichten Vorhang, mit dem sich Rami zuvor vom Leid auf der «anderen Seite» abgeschottet hatte.

Bassam hatte sein Damaskuserlebnis schon im Gefängnis, als er einen Film über den Holocaust sah. Er hatte sich, das sagt er ehrlich, Genugtuung davon versprochen; er schaute, verständnislos, dann entsetzt, drehte sich schliesslich im Innersten erschüttert zur Wand.

Nach der Entlassung gehörte er zu den Gründern der Combatants for Peace: Ehemalige palästinensische Kämpfer und israelische Soldaten engagieren sich in dieser Organisation gemeinsam für eine Friedenslösung, auch Ramis ältester Sohn trat ihr bei.

So lernten sich Bassam und Rami kennen; als zwei Jahre später Abir an den Folgen ihrer Schussverletzung starb, gehörte Rami zu den Freunden, die ins Spital eilten, um den Eltern beizustehen. Seither setzen die beiden Männer, wie es im Buch heisst, ihren Schmerz als Waffe ein – im Kampf für den Frieden.

Der vergessene Krieg

Ein Märchen, zu schön, um wahr zu sein? Beinahe. Man kann McCanns Buch aber auch als packende Lektion im Umgang mit Gewalt und Hass, Verlust und Leid lesen. Wer diese Gefühle entblösst sehen will, nicht in ein kunstvolles literarisches Kaleidoskop gefasst, sondern rau, fragmentarisch, scharfkantig wie die Splitter einer Granate, wird sie in Bushra al-Maktaris Buch «Was hast du hinter dir gelassen?» finden.

Die jemenitische Schriftstellerin und Journalistin hat, oft unter Lebensgefahr, in ihrer kriegszerrütteten Heimat Zeugnisse von Menschen gesammelt, die ihr Obdach, ihre Existenz, ihre nächsten Angehörigen verloren haben; dreiundvierzig der rund vierhundert Protokolle liegen nun in einem von Constantin Schreiber herausgegebenen und von der vormaligen NZZ-Nahostkorrespondentin Monika Bolliger eingeführten Band in deutscher Übersetzung vor.

Als der Krieg begann, war sich Bushra al-Maktari sicher, «dass uns die zivilisierte Welt nicht einfach dem Irrsinn von Politikern und Kriegsgenerälen zum Frass vorwerfen würde». Aber die zivilisierte Welt schaute woanders hin: Im armen Jemen ist nichts zu holen, die Konfliktlinien sind verworren, und weil es fast kein Entkommen aus dem Land gibt, bleibt auch der Andrang von Flüchtlingen aus. Dass der Krieg in Jemen als derzeit grösste humanitäre Krise gilt, schreckt kaum jemanden auf.

Bushra al-Maktari geht es allein um das Leiden der Zivilbevölkerung; zu gleichen Teilen stammen die im Buch versammelten Protokolle von Opfern der Huthi und solchen der Militärkoalition, die Präsident Hadi unterstützt. Der dreiundvierzigste Text ist nicht Zeugnis, sondern Abschied; die Autorin widmet ihn ihrer Freundin Riham Bader, die ums Leben kam, als sie Hilfsgüter in Taiz, der Heimatstadt der beiden Frauen, verteilte.

Den Tod entziffern

Natürlich spürt man, dass eine erfahrene Hand die Zeugnisse gestaltet hat. Ein Text beginnt mit einer längeren Traumsequenz, ein anderer mit einem in direkter Rede gesetzten Dialog; die Geschichte der jungen Fabrikarbeiterin, die in wilder Flucht innehält, nachdem eine Bombe die Produktionshallen in Brand gesteckt hat, die sich durch die herausströmenden Menschen zurückkämpft, um die Schwester aus den Flammen zu retten, liest man mit fliegendem Atem.

Der Unmittelbarkeit der Erzählungen tut diese behutsame Modellierung keinen Abbruch; vielmehr setzt al-Maktari ihr Können dazu ein, die Essenz jeder Erfahrung, die Besonderheit einzelner Stimmen herauszuarbeiten. Einzig der Titel des Bandes klingt wie bittere Ironie: Das Erlittene hinter sich gelassen hat nicht einer, nicht eine der Hinterbliebenen.

Oder doch? Sabah vielleicht, die Mutter, die von sich sagt, Gleichmut habe ihr Herz gerettet? Jenes Gefühl habe sie durchströmt «wie kühles Wasser», als sie vor dem sechs Meter tiefen Bombenkrater stand, dort, wo einst ihr Haus war; vor den Trümmern, aus denen man die zerfetzten Glieder ihres kleinen Sohns, ihrer Tochter und zweier Freundinnen des Mädchens barg. Ja, Sabah preist die «Gleichmut», die ihr Kraft zum Weiterleben gebe – die aber durch ihr schmerzliches Zeugnis infrage gestellt wird, Wort für Wort und Satz für Satz.

Manche Betroffene versuchen rückblickend, den Tod zu entziffern. Lesen Vorzeichen aus den langen Blicken, welche die Tochter beim letzten Abschied zurückwarf, aus der Lebensangst, die den siebenjährigen Sohn plötzlich packte. Erinnern sich, wie die Nichte noch gebettelt hatte, bei der Tante bleiben zu dürfen – «Ich will nicht sterben!» –, unmittelbar bevor sie wenige Schritte vor deren Haus mit Eltern und Geschwistern getötet wurde. Andere Male holt er sein Opfer ganz unerwartet, wie jene Mutter, deren Kraft und Heiterkeit die ganze Familie trugen. Eben noch hörte die Tochter ihr Lachen aus dem Wohnzimmer; hört dann, wie es in qualvolle Schreie übergeht und in einem Wimmern erstirbt.

Anatomie des Leids

Bushra al-Maktaris Buch ist eine harte, fordernde Lektüre, nicht zuletzt, weil es so oft Kinder und junge Menschen sind, die aus dem Leben gerissen oder unheilbar versehrt werden. Aber entziehen kann man sich den hier versammelten Stimmen nicht. Es gelingt der Autorin, genau das zu restituieren, was in der Wahrnehmung des Kriegs in Jemen zwar immer wieder einmal erwähnt, aber kaum je wirklich konkret wird: den Abgrund an Seelenqual, den jede acht- und wahllos über Wohnquartieren und Dörfern ausgeklinkte Bombe, jedes willkürlich abgefeuerte Geschoss aufreisst; das Grauen, in einem Land zu leben, wo jeder Tag, jede Nacht den Tod bringen kann; die Anatomie des Leids, das sich in immer wieder anderer Gestalt zeigt, so ähnlich die Verluste, die es verursacht haben, erscheinen mögen.

Colum McCann: Apeirogon. Aus dem Englischen von Volker Oldenburg. Rowohlt, Hamburg 2020. 595 S., Fr. 37.90.

Bushra al-Maktari: Was hast du hinter dir gelassen? Stimmen aus dem vergessenen Krieg in Jemen. Aus dem Arabischen von Sandra Hetzl. Econ-Verlag, Berlin 2020. 318 S., Fr. 37.90.

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