Jean-Paul Dubois: "Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise"

Wir sind alle Strauchelnde

Buchcover zu Jean-Paul Dubois' "Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise".
Unaufdringliche Souveränität: Jean-Paul Dubois hat den Prix Goncourt 2019 voll verdient. © dtv / Deutschlandradio
Von Claudia Kramatschek · 08.08.2020
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Mit "Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise" gewann Jean-Paul Dubois überraschend den renommierten Prix Goncourt. Zu Recht: Sein Roman über ein Leben voller Verluste ist existentiell, bodenständig und zugleich wie hingetuscht.
Es war eine kleine Sensation: 2019 setzte sich Jean-Paul Dubois im finalen Rennen um den Prix Goncourt gegen die belgische Autorin Amélie Nothomb durch. Tatsächlich beherrscht der 1950 in Toulouse geborene Autor die Kunst, die existentiellen Themen des Lebens in Romane zu verwandeln, die wie hingetuscht wirken und die dennoch äußerst bodenständig sind. Und dann ist da noch der Blick aufs große Ganze. Hier erkennt man den langjährigen Journalisten Dubois, der auch als Romanautor ein scharfer Beobachter ist und seine Figuren stets entlang der Realität entwirft.

In einer Zelle mit einem Hell's Angel

Von dieser Gemengelage lebt auch der 2019 preisgekrönte Roman "Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise". Im Mittelpunkt steht Paul Hansen, Sohn eines dänischen Priesters und einer französischen Kinobesitzerin. Rund 20 Jahre lang war Hansen Gebäudemanager einer Wohnanlage in Montréal, dem Schauplatz des Romans.
Doch nun - der Roman setzt August 2009 ein - sitzt er im Gefängnis. Dort teilt er sich die Zelle mit einem Hells-Angel-Biker und denkt nach über sein Leben, beginnend mit der Kindheit in Toulouse, unter einem konservativen, frommen Vater und einer so lebensfrohen wie linken Mutter, die einzig an die Freiheit der Künste glaubt.

Die Ehe der Eltern zerbricht

Dubois nimmt sich Zeit, um Paul Hansens Geschichte zu erzählen, wechselt beflissen zwischen dem Gefängnisalltag und den Rückblenden seines Ich-Erzählers hin und her – und liefert mit der elterlichen Figurenkonstellation zugleich die geschickte Ouvertüre für eine Bilanz, in der am Ende Verlust und Haben als gleichgewichtige Ingredienzien eines jeden Lebens aufscheinen.
Denn Aufbruch und Neuanfang, Scheitern und Niedergang skandieren den gesamten Roman – auf zweierlei Ebenen. Da ist Pauls eigenes Leben, in das früh Verlust Einzug hält: Die Großeltern sterben 1958 bei einer Fahrt mit dem legendären Citroën DS. Die 60er-Jahre nahen – und mit ihnen der gesellschaftliche Wandel, der an den Grundfesten auch von Pauls Familie rüttelt. 1975 zerbricht die Ehe, der Vater geht nach Kanada. Dort spielt die zweite Hälfte des Romans.

Unaufdringliche Souveränität

Der Sohn folgt dem Vater, tritt jene Stelle als Manager an, die ihm zum Verhängnis werden wird, und lernt die Frau seines Lebens kennen, die elf Jahre später tragisch verunglückt. Im Spiegel dieses privaten Lebens wiederum liefert Dubois ein Epochenporträt über Ländergrenzen hinweg: Da ist besagtes Jahr 1968. Da ist der Raubbau an der Natur, den Kanada bis in die 80er-Jahre betreibt. Da ist das Streben nach Unabhängigkeit – und der Anbruch eines neuen kalten Millenniums.
Das Scharnier zwischen beiden Ebenen bildet das Reich der Dinge: jene Erfindungen, die heute noch Fortschritt und morgen schon Vergangenheit sind. Dubois zeigt seinen kräftig gezeichneten Figuren – vorwiegend Männer, die sich auf ihre Weise die Hände schmutzig machen – und auch uns Lesenden insofern den Platz in der Welt: Sie und wir sind allesamt Strauchelnde und eben deshalb von liebenswerter menschlicher Größe.
Der Roman "Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise" reiht sich damit ein in die lange Tradition der comédie humaine. Jean-Paul Dubois zelebriert sie mit unaufdringlicher Souveränität.

Jean-Paul Dubois: "Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise", Roman
Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer und Uta Rüenauver
dtv, München 2020
256 Seiten, 22 Euro

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