Geschichte mit der Schneiderschere

Ivan Vladislavić erzählt in „Schlagabtausch“ virtuos verschränkt vom Leben Muhammad Alis und von der Apartheid

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So wie Joe ging es wohl vielen damals: „Im Sommer 1971 verfiel ich Muhammad Ali.“ Dieser Boxer war einfach ein Ausnahmetalent, sein Tanzen im Ring, der Ali-Shuffle, sein Selbstbewusstsein: „Ich bin der Größte.“ Sein Widerstand gegen die US-Regierung, für die er nicht in den Vietnamkrieg ziehen wollte und eine dreijährige Sperre in Kauf nahm, sein Engagement für die Black Muslims und sein berühmter Spruch: „Schwebe wie ein Schmetterling, stich wie eine Biene.“ Und obwohl Ali dann gleich den Kampf gegen Joe Frazier verliert, bleibt Joe dabei und sammelt alle Zeitungsausschnitte, die er über Ali bekommen kann. Legt richtige Ordner an: ALI I, ALI II…

Fernsehen gab es damals noch nicht, nicht im südafrikanischen Apartheidstaat. Joe ist weiß und wächst privilegiert auf – vom Leiden der Schwarzen bekommt er nicht viel mit. Vierzig Jahre später ist Joe Schriftsteller und noch einmal in sein Ali-Archiv gestiegen, in seine Kindheit und Jugend. Aber er kommt nicht voran, er braucht eine zweite Sicht auf die Zeit und auch auf sich. Und so bittet er seinen Bruder Branko, ihm bei seinem Buch zu helfen: Die Ordner mit den Ausschnitten durchzuforsten und die Familiengeschichte mit aufzuschreiben.

Und so wie die Ordner wie eine Collage gestaltet sind, mit sich überlappenden, oft nicht zusammenpassenden Ausschnitten, so ist auch das Buch, das von dieser Suche erzählt, ein ausgefeiltes Textgewebe von sich ergänzenden und nicht zusammengehörenden Geschichten. Kapitelweise erzählen sie abwechselnd: Joe von seinem Helden Ali, Branko von der behüteten Kindheit in Südafrika, vom Murmelspieler Ferdi Kouters, vom Vater vor der Musiktruhe oder mit dem Reader’s Digest in der Hand. Vom Stibitzen der Schneiderschere, mit der Joe verbotenerweise Artikel aus der Zeitung ausschneidet, von der Freundschaft mit Paul Skinner, nachdem der ihm auf’s Maul gehauen hat. In Joes Erzählungen wird nach und nach Muhammad Alis Geschichte aufgeblättert, immer aber aus der Sicht der südafrikanischen Sportreporter. Die sich lange weigern, ihn anders als Cassius Clay zu nennen, bis einmal der Lapsus gelingt, in einem Artikel Cassius Clay und Muhammad Ali gleichzeitig auftreten zu lassen. Von ihren pathetischen und blumigen Bemühungen, die wenigen möglichen Schläge mit immer neuen Metaphern auszuschmücken, ganz zu schweigen. 

Nach und nach häufen sich aber die irritierenden Momente. So entdeckt Brankos Tochter auf den Rückseiten der Ausschnitte kurze, uns heute verstörende Nachrichten über die unterdrückten Schwarzen der 70er-Jahre, manche davon sind den Kapiteln als Motti beigegeben. Wie die über zwei schwarze Bergarbeiter, die in einer Mine zu Tode gekommen sind. Die kurze Notiz endet mit den Worten „Die nächsten Angehörigen der Männer wurden noch nicht benachrichtigt.“ Und so wird aus der Familiengeschichte nicht nur ein sozialer, politischer Roman, in dem am Ende Joe fast erschossen und ausgeraubt wird, sondern auch eine einzigartige Mediengeschichte der Apartheid, die ihre Lügen doch nicht verbergen konnte. Da ist der Originaltitel The Distance sehr viel treffender als Schlagabtausch: Joes Distanz zu seiner eigenen Lebensgeschichte, Alis Distanz zu seinen Gegnern, Brankos zu Joe, der Weißen zu den Schwarzen. Es ist ein grandios komponierter Roman, der auf mehreren Ebenen spielt, sie virtuos miteinander verwebt und dabei auch immer die beobachtende Distanz wahrt.

Titelbild

Ivan Vladislavić: Schlagabtausch. Roman.
Aus dem Englischen von Thomas Brückner.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020.
252 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783803133205

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