Es ist mittlerweile fast ein wenig langweilig, immer wieder aufs Neue darüber zu staunen, was Stephen King alles kann. Vielmehr wäre es eine herausfordernde Arbeit, herauszufinden, wo überhaupt Kings Schwächen liegen könnten. Wenn King Defizite hat, dann sind es hin und wieder die etwas holprigen Enden seiner Romane, in denen er all seine Einfälle bündeln und plausibel verknüpfen muss. Aber: Das stört uns nicht.

King, 73 Jahre alt, ist zugleich ein Meister der atmosphärischen Beschreibung der amerikanischen Kleinstädte, unter deren Asphalt das Böse und das Unheimliche lauern. Er hat ein unerreichtes Gespür für Stoffe, einen unermesslichen Ideenraum, eine unerschöpfliche Fantasie. Wer heute Stephen King noch immer als Trivialschriftsteller abtun will, dem ist auch nicht mehr zu helfen. Sowohl in den Genres, von der Horrorerzählung über die Fantasygeschichte bis hin zum klassischen Krimi, als auch hinsichtlich der Beherrschung unterschiedlicher Gattungen zeigt King eine geradezu wahnwitzige Flexibilität.

Nun gibt es einen neuen Band mit vier Kurzromanen, dessen Herzstück, die Titelgeschichte Blutige Nachrichten, eine Protagonistin in den Mittelpunkt rückt, anhand derer sich sehr viel über Kings Verständnis von Literatur verstehen lässt: Holly Gibney trat zum ersten Mal im Roman Mr. Mercedes auf und sei, wie King erklärt hat, eigentlich nur als eine schrullige Nebenfigur angelegt gewesen, in die er, King, sich aber verliebt habe. Diese verunsicherte, neurotische, in familiäre und andere Zwänge eingeklemmte Person voller Selbstzweifel hat sich in Finderlohn, Mind Control und Der Outsider sukzessive ihre Eigenständigkeit erkämpft. Die Figur, schreibt King im Nachwort des neuen Buchs, führe ein Eigenleben, das er selbst während des Schreibens mit Neugier verfolge. Kings schriftstellerische Triebfeder ist eben das Obsessive, Unkontrollierbare. Anders gesagt: Die besten Figuren sind diejenigen, über die er selbst keine Kontrolle mehr hat. Ob das eine Selbststilisierung oder die reine Wahrheit ist, spielt keine Rolle.

Blutige Nachrichten ist eine Solonummer für Holly Gibney und spielt auf den zynischen Leitsatz amerikanischer Sensationsmedien an: "If it bleeds, it leads." Salopp übersetzt: Je blutiger das Geschehen, desto größer die Aufmerksamkeit. Im Fall von Blutige Nachrichten ist es ein unmotiviertes Paketbombenattentat auf eine Schule, das das Geschehen ins Rollen bringt. Der Reporter eines lokalen Fernsehsenders erregt Holly Gibneys Misstrauen. Holly, die nach dem Tod ihres Förderers Bill Hodges die Privatdetektei Finders Keepers führt, beginnt zu recherchieren und stößt dabei auf einen greisen Ex-Polizisten, der ihren Verdacht gegen den Fernsehmann bestärkt und zu ihrem – wenn auch physisch immobilen – Unterstützer wird. Die Geschichte hätte mit einigen Ausschmückungen und Erweiterungen wahrscheinlich auch das Potenzial für einen der opulenten King-Schmöker gehabt, doch vielleicht ist es gerade die Stärke dieser Erzählung, dass King sich auf 240 Seiten beschränkt, auf das große metaphysische Spekulationsgerüst verzichtet und die Auflösung der Story scharf zusammenhält.

Zwei der anderen Kurzromane in dem mehr als 500 Seiten starken Band sind routinierte Fingerübungen, nicht sonderlich überraschend, aber solide gearbeitet: Ratte nimmt die von King seit Shining immer wieder thematisierte Verbindung von Schreiben, Selbstzerstörung und Wahn auf, dieses Mal erzählt anhand eines Universitätsdozenten, der nach einigen erfolgreichen Kurzgeschichten nun endlich einen Roman verfassen will. Die Ratte, die ihm dabei in einem einsamen Haus in den Bergen begegnet, zitiert übrigens aus einer fiktiven, von King erfundenen Poetikvorlesung von Jonathan Franzen, was ziemlich lustig ist. Die schwächste Story, die unglücklicherweise den Auftakt bildet, ist eine Parabel auf die sich verselbstständigte Macht der Mobiltelefone.

Ungewöhnlich berührend schließlich ist Chucks Leben; ein Text, der mit einem apokalyptischen Untergangsszenario eröffnet, um dann chronologisch rückwärts vom Sterben eines durchschnittlichen Familienvaters zu erzählen, der seinen letzten großen Lebensmoment in einem spontanen Tanz auf der Straße hatte: "Erinnern wird er sich jedoch – gelegentlich – daran, wie er stehen blieb, die Aktentasche fallen ließ und anfing, die Hüften zum Rhythmus des Schlagzeugs zu bewegen, und dann wird er denken, dass Gott dafür die Welt erschaffen hat. Genau dafür."

Blutige Nachrichten ist keines von Kings besten Büchern. Gut ist es trotzdem. Wichtig für den schwirrenden Kosmos dieses Autors dürfte die Weiterführung der Holly-Gibney-Geschichte sein. Diese Figur wird King so schnell nicht aufgeben. Oder umgekehrt.

Stephen King: Blutige Nachrichten. Aus dem amerikanischen Englisch von Bernhard Kleinschmidt. Heyne Verlag, München 2020; 560 S., 24,- Euro; Hörbuch: Gelesen von David Nathan. Randomhouse Audio; 24,- Euro