Was, wenn Fische schreien könnten? – Mit solchen Fragen macht uns Professor Gustafsson über seinen Tod hinaus neugierig

Ganz so beglückend wie das, was von Lars Gustafsson zu Lebzeiten erschien, sind zwei postum veröffentlichte Werke nicht mehr. Doch auch aus ihnen leuchten die Qualitäten des schwedischen Meisters.

Franz Haas
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Lars Gustafsson in einer Aufnahme von 2015.

Lars Gustafsson in einer Aufnahme von 2015.

L. Cendamo / Leemage/ Imago

Lars Gustafsson (1936–2016), einer der vielen ewigen Kandidaten für den Nobelpreis, hatte sechzig Jahre lang ein formidables poetisches, philosophisches und vor allem erzählerisches Gesamtfeuerwerk gezündet. Zwei jüngst auf Deutsch erschienene schmale Bücher sind aber etwas blasse Nachzügler, die nicht mehr ganz an die einstige Hochform heranreichen: der philosophische Zeitreise-Roman «Dr. Weiss’ letzter Auftrag» und das Kindheits-Erinnerungsbuch «Doppelleben». In beiden Bändchen finden sich jedoch Spuren des schillernden Lebenswerks dieses grossen Schweden, das neu oder wieder zu entdecken sich allemal lohnt.

Ein Jahr nach seinem Tod erschien das gemeinsam mit seiner dritten Frau, Agneta Blomqvist, verfasste «Doppelleben», ein autobiografischer Rückblick, abwechselnd aus seiner und ihrer Sicht, auf zwei sehr verschiedene Milieus und Kindheiten: er aus der unteren, nach oben strampelnden Mittelschicht, sie aus dem gehobenen, moralingläubigen Bürgertum. Das Künstlerpaar hatte davor schon ähnliche Bücher vierhändig geschrieben, damals allerdings noch mit mehr Verve und Witz. Vor allem die Beiträge von Blomqvist sind meist von altersmilder Harmlosigkeit, Erinnerungen an «wunderbares Sommerland», an das Aufwachsen zwischen allerliebsten Geschwistern, Andersen-Märchen und Doré-Bibel, an behütete Mädchenjahre, über die nur der christlich-autoritäre Vater seinen frommen Schatten warf.

Ein Sommertag mit schlagenden Hechten

In dieser bürgerlichen Idylle zwischen Sonntagsschule und Schneemannbauen gehören «kratzige lange Strümpfe» schon zu den schlimmeren Erfahrungen des Wohlstandskindes, ebenso «der Geruch nach nassen Wollsachen». Hier bezieht sich Agneta Blomqvist auf ein Leitmotiv und den Titel eines Romans von Lars Gustafsson, der in diesem Doppel-Selbstporträt eindeutig der Stichwortgeber ist und mehr zu sagen hat.

Die von ihm beigesteuerten Abschnitte haben zwar nicht mehr den geistreichen Biss und die Poesie früherer Werke, aber immer noch funkelt hier der ernste Scherz des Schalks und erinnert an seine Bravourstücke. So etwa endet die Beschreibung eines Sommertags am See (samt Tauchübungen, Fischerei und dem Schlagen der Hechte) mit der Schreckensfrage, was geschähe, «wenn Fische schreien könnten».

Auch in diesen lichten Kindheitsbildern blitzen Abgründe auf wie in Gustafssons Romanen. Und der gealterte Autor hält es dann immer noch mit Schopenhauer, der angesichts von Kinderelend meinte, es sei «besser, nicht geboren zu sein, überhaupt nicht da zu sein». Jahrelang schlief der Sohn eines Staubsaugervertreters auf einem «Ausziehbett in der Küche» und kämpfte mit Science-Fiction-Büchern gegen die Langeweile der schwedischen Schullektüre («eine erbärmliche Wassersuppe»). Im Rückblick schlägt er auch daraus noch Funken und konstatiert, sehr frei nach Heidegger: «In der Langeweile zeigt sich das Erleben der Zeit seiner Unterhosen beraubt.»

Während Agneta Blomqvist in ihren Erinnerungen eher an der physischen Oberfläche bleibt, bei «Tante Ruts Kaffee» und Onkel Adolfs Bauch, gräbt Lars Gustafsson grübelnd in metaphysischen Tiefen. Seine Gedanken springen von den verhassten Schulstunden des Kindes am Samstag zur «unendlichen Zähigkeit der leeren Zeit», deren Konzept von Newton und Leibniz in Ordnung gekleidet worden war, bis Einstein kam und alles wieder durcheinanderbrachte.

Der Zeit in der Schule, den Lehrern und den Lehrstoffen widmet Gustafsson manche Seite von so vergnüglichem Scharfblick wie Elias Canetti in seiner Autobiografie. Spielerisch bezieht er sich zuweilen auf sein eigenes Gesamtwerk und beschliesst dieses Buch mit einem seiner früheren Gedichte, mit dem geträumten Bild von seinem Boot, das einen Liegeplatz auf dem Friedhof seiner Heimatstadt bekommen soll.

Philosophischer Ritt über Weltmeere

Mit sehr abstraktem Spielzeug hantiert Gustafsson auch in seinem postum veröffentlichten Roman «Dr. Weiss’ letzter Auftrag», diesem philosophischen Ritt über Weltmeere und durch Erdzeitalter, über dessen Rätselhaftigkeit der schwedische Dichter Magnus Ringgren schrieb: «Unser Erzähler ist ein alter Mann, der mit seinen Lieblingsideen sitzt und spielt, aber er ist immer weniger darum bemüht, Verbindungen zwischen ihnen und seinem Publikum herzustellen.» Damit ist schon vieles über die Qualität und den Solipsismus dieses Spätwerks gesagt, in dem der Autor noch einmal heiter, aber schwer verständlich in seinen literarischen Lebensthemen kramt, samt Exkursen in seine Spezialgebiete Philosophie, Mathematik und Musik, über die der ehemalige Professor Gustafsson hier vieldeutig flunkernd doziert.

Die Hauptfigur dieses Romans, der Ich-Erzähler Dr. Weiss, wird von einem «Ordensmeister» aufgefordert, eine mysteriöse «Eisenkrone» aufzufinden, die in fernen Zeitaltern und Hochkulturen als «Intelligenzverstärker» gedient hatte. Er fühlt, dass «dieser Auftrag zu den absolut sinnlosesten gehörte», doch macht er sich auf den Weg durch Zeiten und Räume, in eine schwedische Schiffswerft, vielleicht in einem vom Kalten Krieg heimgesuchten Spätmittelalter, in ein Museum mit wunderlichen Objekten, Foltergeräten oder Küchenutensilien. Er begegnet pelzigen Zwergen oder Klonen und vielen anderen Sonderlichkeiten, vielleicht in sehr ferner Zukunft oder Vergangenheit, vielleicht in einem ganz anderen Universum.

Mit einem Schiff aus Calais kommend, findet er schliesslich an der südenglischen Küste den ominösen Gegenstand («die Lampenkrone oder der mittelalterliche Königshelm, der seltsame Kopfschmuck»), der «zuletzt in der Kathedrale von Ravenna gesichtet» worden war. Der ist versteckt in einem Uhrturm, dessen Spielwerk eine wenig bekannt Musik von Mozart von sich gibt, das «kleine Uhrwerkstück mit der hohen Köchelnummer». Die wunderliche Reise endet in Lissabon vor einem verbotenen Buch und noch mehr Rätseln, was alles ein wenig klingt wie bei Umberto Eco und Tolkien, und man muss Lars Gustafsson sehr mögen, um ihm dabei immer zu folgen.

Insektenbein auf Wasseroberfläche

Das schönste, mehrfach wiederholte Sinnbild dieses Romans ist der Schneider, besser bekannt als Wasserläufer (aus der Familie der Wanzen), der mit seinen Insektenbeinen auf Wasseroberflächen kurvt, ohne Ahnung vom Abgrund unter ihm. Der Mensch als tapferes Schneiderlein, das ist eine listige Allegorie zur existenziellen Ermunterung in vielen Gustafsson-Büchern. «Wir fangen noch einmal an. Wir geben nicht auf», wiederholt sich ständig der Erzähler in dem frühen Roman «Wollsachen» (1973), dem zweiten Teil der grossartigen Pentalogie «Risse in der Mauer».

In dem Nachlass-Roman «Dr. Weiss’ letzter Auftrag» sind diese Ermutigungen allerdings in dürrer, essenzieller Sprache ausgestreut, ohne die Lust auf das wortreiche Fabulieren und die List des schönen Formulierens. Deshalb könnte manche Leserin ein Verlangen bekommen nach dem üppigen, raffinierten Erzählen wie in der amerikanischen Universitäts-Odyssee «Die Sache mit dem Hund» (1993). Und der nostalgische Leser mag sich sehnen nach Gustafssons beredten Jugenderinnerungen an einen fernen, erotisch aufgeladenen Hitzesommer in Schweden, mag sich «Frau Sorgedahls schöne weisse Arme» (2008) zurückwünschen.

Ganz zu schweigen von den in eloquente Ironie verpackten philosophischen Alltagsfallen im Roman «Nachmittag eines Fliesenlegers» (1991) – ein Schelm, wer denkt, der Autor habe mit diesem Titel Peter Handkes «Nachmittag eines Schriftstellers» (1987) auf die Schippe genommen. – Lars Gustafsson ist mit diesem letzten Buch auf Zehenspitzen abgetreten, mit kompliziert minimalistischen Denkfiguren, aber ohne erzählerisches Beiwerk. Und das war ja auch sein künstlerisches Recht.

Lars Gustafsson / Agneta Blomqvist: Doppelleben. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Hanser-Verlag, München 2020. 141 S., Fr. 28.90

Lars Gustafsson: Dr. Weiss’ letzter Auftrag. Roman. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Wallstein-Verlag, Göttingen 2020. 146 S., Fr. 31.90

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