Es ist, als habe Didier Eribon eine Schleuse geöffnet. Eigenbiografiereflexive Bücher, ob nun als soziologische Fallbeschreibungen oder Romane, zentriert um Armuts- und Unterschichten-Elternhaus, sind auch hierzulande an der Tagesordnung. Bemerkenswert zumeist. Nennen wir nur Deniz Ohde oder Christian Baron. Alles seit Mitte der Achtzigerjahre Geborene. Nun hat Michael Kleeberg, Jahrgang 1959, also zu den Babyboomern gehörig, eine "Recherche über meinen Vater" vorgelegt, die vom Verlag mit eben dem Verweis auf Eribon und Baron beworben wird. 

Tatsächlich aber geht es hier nicht um Armut, sondern um die entschlossene Flucht vor ihr, um Angst vorm Abstieg, Abwehr von Fremdbestimmung. Kleinbürgertum, diese Kategorie verwendet Kleeberg selbst. Auf der anderen Seite bedeutet das: Streben nach finanzieller Sicherheit, energische Aufstiegsorientierung und Illusion von Autonomie. Verkörpert im Vater, den im Wechselbad der Gefühle Hassgeliebten.

Anlass für das Buch ist dessen jäher Krebstod 2014, Ausgangspunkt aber ist ein Ereignis im Jahr 2011, als der Sohn erfahren muss, dass und wie der Vater auf die Spam-Masche der Nigeria-Connection hereinfällt und für ein illusorisches Millionenversprechen Tausende Euro auf Nimmerwiedersehen zahlt, die er sich zudem noch in der Familie erborgen musste. Später bekommt Kleeberg, als Deutung für das Verhalten des Vaters, das Hans-im-Glück-Syndrom erklärt, in dem Spieler, Spekulanten oder Betrugsopfer nicht aufhören können, ehe alles verloren ist, woraus dann ein kurzes Hochgefühl der Befreiung entsteht. Das passt zum Vater, der schon als Berufstätiger ein "Laokoon des Geldes" war, ständig auf der Jagd nach monetärem Wohlstand, damit Sicherheit und Unabhängigkeit. Einer, der Glück zu haben beansprucht, aber nicht weiß, wie Glücklichsein geht.

Der Vater, bei Kriegsende vierzehn, die zwei Jahre davor in der Kinderlandverschickung von der ohnehin problematischen Familie isoliert, ist wahrlich kein Nazi, aber "Kind einer heillosen Zeit", mithin zum Beispiel infiziert von schlaumeiernden Judenklischees, vom "Hart wie Kruppstahl", vom Durchkommen auf eigene Faust. Kleeberg erinnert sich, wie er nach vermeintlichem Aufstieg von der SPD zur CDU überläuft, stolz auf seine Eigenständigkeit und Selbstverantwortlichkeit ist, unfähig, im Team zu arbeiten, aber auch unfähig zur Chefposition. Privat ist sich die Kleinfamilie selbst genug. Und wenn – was oft genug geschieht und die Familie einmal mehr umzuziehen und den heranwachsenden Sohn in neue Orientierungen nötigt – Missgeschick und Fehlkalkulation, aber auch Konjunktur und technische Entwicklungen zum Berufswechsel zwingen, ist daran nicht die wirtschaftliche oder soziale Situation oder die eigene Unfähigkeit schuld, sondern Intrige, Schicksal, gar Fluch. Gewissermaßen ein Aberglaube an sich selbst: Stolz. Stolz auf das Selbsthelfertum, vor allem, der Stolz, ein Kleeberg zu sein. "Auserwähltheitsdünkel", nennt der Sohn das.

Siegfried und Pimpelmaus

Da der Vater im Berufsleben erfährt, dass ihm irgendwann, Kleeberg hin oder her, beim Aufstieg stets Akademiker im Wege stehen, soll der Sohn ein Doktor werden. Dass der, als Kind immer im Bündnis mit der Mutter, ihrer spitzzüngigen Sprachmacht, ihrem fotografischen Gedächtnis und Vergangenheitsblick, Schriftsteller wird, und nicht einmal einer, der Bestseller schreibt, betrübt den Vater fast bis zuletzt. In einer sensibel beobachteten Szene, als der todkranke Vater an einem Symposion zum Werk des Sohnes teilnimmt, nimmt Kleeberg Stolz und Anerkennung des Vaters wahr, in einer Kippfigur freilich des unerbetenen Rates, doch endlich mal ein gefälliges Italienbuch zu schreiben.

Da ist der Vater für den Sohn längst selbst eine Kippfigur, er erkennt sich zugleich in ihm als "Selbstdenker und Selbsthenker". Der Vater ein Jekyll/Hyde – teamunfähig und doch von den meisten spontan gemocht, dünkelhaft und selbstlos, jähzornig und zärtlich. Dass er, der selbst von seinem Vater üble Prügel bezog, den Sohn heftig verprügelt, bis der jenseits der Pubertät mit Worten zurückschlägt, am Ende sich daran nicht mehr erinnern will oder kann: Der Sohn sieht es ihm nach, erinnert sich vielmehr zunehmend an die liebevollen, zärtlichen Momente, zumal an seine erzählten, begnadet fabulierten und gezeichneten Geschichten, in denen Vater und Sohn als Siegfried und Pimpelmaus erkennbar unterschiedlich, doch zugleich als Kumpel ihre Abenteuer zur Weltrettung erleben.

Kleeberg befragt die verbliebenen Familienmitglieder, die Aufzeichnungen der Mutter, Archive zu den Zeitumständen, vor allem aber sich selbst und seine Erinnerungen. Darin ist er schonungs-, doch nie gnadenlos. Jedenfalls nicht mit dem Vater, eher mit sich selbst. Nicht selbstverständlich ist das für einen, der als Autor vom Fiktionalisieren und Erfinden lebt. Diese unbedingte, zugleich unaufdringliche Aufrichtigkeit wäre nun allein kein zwingender Grund, sein Buch zu lesen, wenn man nicht speziell an ihm als Autor interessiert ist. Doch die Befragung des Vater-Sohn-Verhältnisses ist immer wieder eingebettet in Exkurse zur weiteren Familie, den unterschiedlichen Schicksalen der Einzelnen darin, somit auch, in einem exemplarischen Panorama, den Zeitläufen vor und nach 1945.

Mit großer Geduld wägt Kleeberg immer wieder mögliche Einflüsse und Gründe, prüft mögliche Erklärungen und Folgerungen. Die ewig neuen Fragen: Wie wird einer so? Wie wurde ich so? Wie unser Verhältnis? Wie war es denn nun wirklich? Schließlich auch: Welchen Anteil haben Erbe und Erziehung, Charaktere und Temperamente? Wie setzen sich bestimmte Verhaltensmuster von Generation zu Generation fort, wiewohl wir ihnen doch die Umstände ändern und man um alles in der Welt nicht so sein will wie die davor?

In der Recherche geht es dem Autor selbst ein wenig wie Hans im Glück. Nachdem er faktisch alle möglichen Großerklärungen von posttraumatischen Belastungsstörungen bis Klassenverhältnissen für das Wesen des Vaters und das Verhältnis des Sohns zu ihm durchmustert hat, fragt er sich und uns: "Aber vielleicht ist es ja so, dass mein Vater zu dem Menschen wurde, als den ich ihn erlebte, im Guten wie im Schlechten, einfach weil es so angelegt war in ihm." Eine angesichts der Größe und Hartnäckigkeit der Fragen kleiner Bescheid. Vermeintlich. Nämlich zugleich ein glücklich erleichterter: Individuum est ineffabile, das Individuum ist nicht zu fassen. Es ist das Kleinste und Allergrößte zugleich.

Michael Kleeberg: Glücksritter. Recherche über meinen Vater. Berlin: Galiani 2020, 233 S., 20 Euro