Wenn die kleinen Verbrecher im Berlin der 1920er Jahre vor dem Gericht erscheinen

Gabriele Tergit verfolgte während zehn Jahren täglich die Gerichtsprozesse in Berlin-Moabit. In ihren Reportagen porträtierte sie das Milieu der Kleinkriminellen.

Bernd Noack
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Die Schriftstellerin und Journalistin Gabriele Tergit in einer Aufnahme von 1926.

Die Schriftstellerin und Journalistin Gabriele Tergit in einer Aufnahme von 1926.

Jens Brüning

Wer wissen will, wie es im Berlin der 1920er Jahre abseits der Beletagen am Kurfürstendamm oder in den Grunewalder Villen zuging, der folge Franz Biberkopf in die Halbwelt am Alexanderplatz, wie Alfred Döblin sie beschrieben hat, verirre sich mit Alexander Gerlach in den spelunkigen Gassen des düsteren jüdischen Scheunenviertels oder hole sich das gewaltvolle «Babylon Berlin» auf den Bildschirm. Oder aber er lese die Gerichtsreportagen von Gabriele Tergit, die jetzt in einer Auswahl unter dem Titel «Vom Frühling und von der Einsamkeit» von Nicole Henneberg neu herausgegeben wurden.

Zwischen 1924 und 1933 sass die Journalistin nahezu täglich für verschiedene Berliner Zeitungen im Moabiter Gerichtsgebäude und hörte sich die grossen und meist eher unspektakulären Sozialdramen an, die hier als «Fälle» verhandelt wurden. Als Chronistin des scheinbar Nebensächlichen holte sie diejenigen ins Licht, die im Dunkeln agieren und vegetieren: die glücklosen Gauner, die selber übers Ohr gehauenen verhinderten Betrüger, die Fälscher und Lügner, die falschen Damen und unglückseligen Strassenmädchen, die Engelmacherinnen und die Mörder aus Vorsatz oder Versehen.

Die Stadt wimmelt von Verlierern

«In Moabit ist es so selbstverständlich, dass einer in Haft ist, so die Alltäglichkeit, dass man sich schon gar nicht mehr umschaut», schrieb Tergit in einem ihrer «kleinen Bilderbogen», in denen sie Justizereignisse aufspiesste, die eigentlich nicht der Rede wert gewesen wären. Aber das Gesetz verlangte die Ahndung, Übertretungen mussten gesühnt werden, auch wenn es bei den Delinquenten meist nur ums blanke Überleben ging, das in der brausenden Grossstadt zum alltäglichen Kampf geworden war. Am Ende dieser Tage im Gericht sah die Reporterin nur noch gebrochene Gestalten, die zahlen sollten oder abzusitzen hatten und deren Zukunft doch schon vorgezeichnet war: «Die Gerichtsverhandlung ist nicht das Schlimmste, sondern der Mitmensch. Eine arme Kreatur schlich hinaus.»

«Die» Tergit, wie man die burschikose Frau mit der dicken, schwarzen, runden Brille nannte, interessierte dabei weniger das Urteil, das nach klaren Paragrafen gesprochen wurde, sie blickte in die Menschen hinein, die da hilflos vor der Staatsmacht standen und für eine gerechte, wirksame Verteidigung keinen Pfennig übrig hatten. In all den kurzen Berichten beleuchtet Tergit vor allem das Milieu, aus dem die Angeklagten kamen. Und sie stellt stets auch die widrige Zeit in Rechnung. Nach dem grossen Krieg wimmelte die Stadt von Gestrauchelten, Verlierern, Verstörten. Was Tergit beobachtet, das sind «die kleinen Leben in den Nebensälen», wie es anlässlich eines «Inflationsprozesses» einmal heisst, und da stehen nun «Menschen aus versunkenen Zeiten vor dem Richter, (. . .) ganz fremd dem, was man die Wirklichkeit nennt».

In Berlin herrschte die grosse Orientierungslosigkeit: Kriegsversehrte, Arbeitslose, Inflationsgeschädigte und Armut, soziales Elend, Prostitution, Verzweiflung, wohin man blickte in den abseitigen und überbevölkerten Vierteln. Eine ausgebootete Gesellschaft, die versuchte, sich mit Gaunereien und Notwehr über Wasser zu halten. Schuldhaft, so der Tenor in Tergits Reportagen, waren sie alle nicht, nur Opfer einer Zeit, die sich um die seelischen Folgen der mörderischen Schlachten und das bisschen Glück, das ein Individuum für sich reklamiert, nicht schert. Die Forderung der Journalistin klingt heute so naiv, wie sie damals wohl wirklich gerecht gewesen wäre: «Amnestie müsste sein für alles, was geschah zwischen 1914 und 1924.»

Als Gabriele Tergit das schrieb, 1928, war die 1894 geborene Berlinerin noch lange keine bekannte Autorin, freilich schon eine Journalistin, deren Beiträge von Theodor Wolff oder auch der «Weltbühne» hochgeschätzt wurden. Ihr literarischer Ruhm setzte 1932 mit dem Roman «Käsebier erobert den Kurfürstendamm» ein – und schon bald musste Tergit wieder verstummen. Vor den Nazis floh sie ins Exil, kam bis nach Palästina und später nach London. Erst in unseren Tagen aber wurde sie als feinsinnige, detailverliebte und engagierte Schriftstellerin wieder bekannt, mit der Neuausgabe des Romans «Effingers», ihrer fulminanten Lebens- und Zeitchronik einer jüdischen Familie über vier Generationen hinweg.

Vor den Nazis geflohen

Manche Milieustudie in diesem gewaltigen Stück Prosa mag Tergit noch aus ihrer Zeit als Gerichtsreporterin übernommen haben. Vor allem aber der Aufstieg der Nationalsozialisten, der im 1951 erstmals erschienenen «Effingers» breiten Raum einnimmt, war ihr von damals als Einstieg ins Verderben erinnerlich.

Nicht nur dass sie tatsächlich einmal Hitler in einem Prozess vor dem Kriminalgericht in Moabit erlebt hatte – es ging um ein Pressevergehen –, immer öfter stand um 1930 die politische Gesinnung der Angeklagten und der Opfer im Brennpunkt der Rechtsprechung. Wie Nicole Henneberg im Nachwort zu den Reportagen ausführt, waren Gerichtsberichte in diesen Jahren «eine der wenigen Möglichkeiten, einen Blick hinter die Kulissen der Staatsgewalt zu werfen». Und Tergit blickte sehr genau und entlarvend, und sie sah Richter, die sich in ihrer Autoritätsgläubigkeit «mit den nationalsozialistischen Angeklagten, deren Taten auf die Beseitigung der Republik zielten und auf die Herstellung einer autoritären Staatsordnung», verbündeten.

Gabriele Tergit schrieb noch bis 1932, wurde angefeindet von den Faschisten, gab dann auch angesichts der Bedrohung des eigenen Lebens auf. In einem ihrer letzten Berichte, deren hektischer, sarkastischer, exakter Ton ihr Markenzeichen war, meinte sie bereits spürbar desillusioniert: «Tief frassen schon faschistische Gedankengänge sich in die Köpfe. Die letzte Instanz, das Gericht hat (diesmal) nicht versagt. Das ist kaum mehr als ein Zufall.»

Gabriele Tergit: Vom Frühling und von der Einsamkeit. Reportagen aus den Gerichten. Schöffling-Verlag, Frankfurt am Main 2020. 368 S., Fr. 42.90.

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