Efeu - Die Kulturrundschau

Die Reime lagen auf der Straße

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26.09.2020. Die SZ lässt sich vom Trüffelduft der Blockbuster-Ausstellung "Dekadenz und dunkle Träume" in der Alten Nationalgalerie nicht darüber hinwegtäuschen, dass die belgischen Symbolisten von den Kolonien profitierten: Sie hätte sich auch Fotos von abgehackten Kinderhänden aus dem Kongo gewünscht. Die FAZ schleicht sich an die scheuen AutorInnen Portugals heran. Auf ZeitOnline erklärt Julia Wissert, die erste schwarze Intendantin an einem deutschen Stadttheater, wie sie das Theater diverser machen will. Die Berliner Zeitung sucht mit Chuck D von Public Enemy den Wert der Kultur auf den Straßen der Bronx.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.09.2020 finden Sie hier

Kunst

Bild: "Fernand Khnopff, Die Zärtlichkeit der Sphinx [Des Caresses], 1896, Öl auf Leinwand, 50 × 150 cm, © Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel.

Das "Trüffelduftige" und "Narkotische" in den Bildern von Fernand Khnopff, James Ensor oder Felicien Rops kann Peter Richter in der SZ in der Blockbuster-Ausstellung "Dekadenz und dunkle Träume" in der Alten Nationalgalerie nicht darüber hinwegtäuschen, dass "das junge Belgien damals wirtschaftlich und kulturell nicht zuletzt auf Kosten seiner Kolonien prosperieren konnte": "So richtig dunkel und dekadent werden die Traumbilder jener Belgier aber erst dann, wenn man sie sich als Pendants zu den Fotos von abgehackten Kinderhänden aus dem Kongo denkt. Dabei ist gar nicht die Frage, ob und was genau diese Maler von den Grausamkeiten in der Privatkolonie ihres Königs wussten. Symbolistisch gesprochen: Ihre Bilder ahnen es für sie. Als eminent bürgerliche Künstler für eine eminent bürgerliche Kundschaft sind sie zwangsläufig verstrickt in exakt die Wirtschaftsordnung, vor deren brutaler Diesseitigkeit sie malend oder bildhauernd die Augenlider senkten, um in rauschhafter Begeisterung für die eigene Empfindsamkeit nach innen zu schauen."

Den Entstehungskontext der Bilder blendet auch Andreas Kilb in der FAZ nicht aus - und doch ist die von Ralph Gleis aus gut hundertachtzig Stücken aus öffentlichen und privaten Sammlungen zusammengestellte Ausstellung für ihn ein "Liebeswerk", ein "Monument der Hingabe eines Experten an sein Thema". Den belgischen Symbolismus verkörperte kaum ein Künstler so wie Fernand Khnopff, erkennt er: Aus "dem damals handelsüblichen Symbolvokabular aus Sphingen, Rittern, Heiligen, Lilien und antiken Reminiszenzen - das schreiende Antlitz der Medusa und das geflügelte Haupt des Schlafgotts Hypnos sind seine Leitmotive - schuf Khnopff eine Bilderwelt, die noch heute fasziniert, weil sie mit dem frühen Industriekapitalismus zugleich dessen freundliche Fassade, die heute so gern verklärte Massenkultur des Fin de siècle, zu exorzieren versuchte."

Bild: © Miron Zownir, ohne Titel, aus der "Berlin Noir" Serie, 1979

Ganz "unsentimental" zeigt die Foto-Ausstellung "Berlin, 1945 - 2000" in den Berliner Reinbeckhallen die Stadt im Wandel und die Parallelen über Grenzen und Generationen hinweg, staunt die Schriftstellerin Annett Gröschner auf ZeitOnline: "Rudi Meisel reiste in den Achtzigerjahren im Auftrag verschiedener Magazine nach Berlin und fotografierte auf beiden Seiten mehr das Gemeinsame als das Trennende. Er hätte leicht den Weg von Gundula Schulze Eldowy kreuzen können, die zur selben Zeit im Scheunenviertel und der Spandauer Vorstadt fotografierend unterwegs war, um das Leben ihrer Nachbar*innen - Alte, Kranke und aus der Welt gefallene Randexistenzen - zu dokumentieren. Die Häuser sind kaputt, die Straßen stehen still und jedes Haus scheint in einen feuchten Keller zu führen. Die junge Fotografin zeigt Berlin als eine erloschene Stadt, die das 'Gefühl einer archäologischen Stätte verströmte', an den Fassaden Informationen aus einer anderen, unbegreiflichen Epoche."

Weiteres: Ein wenig analoge Kunst entdeckt Helmut Ploebst im Standard dann doch beim diesjährigen Steirischen Herbst, der unter dem Titel "Paranoia TV" eher als "Medienkonglomerat" erscheint: "Auf dem Burgring befinden sich zwei Straßenlaternen, die wie im Dialog miteinander über tausend Namen von fiktiven Orten aus der Weltliteratur aufsagen und dabei blinken. So unterwandert der Künstler Vadim Fishkin die leidigen Reisebeschränkungen." Besprochen wird die Ausstellung "Jürgen Wittdorf: Lieblinge" im Berliner Kunstverein Ost (Welt) und die Installation "Dolorem Ipsum" der georgischen Künstlerin Anna K.E. in der Berliner Galerie Thumm (Berliner Zeitung).
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Literatur

Für die FAZ durchstreift Elena Witzeck das literarische Leben Portugals. Der jungen Generation bescheinigt sie eine Tendenz zur "Beschäftigung mit Herkunft und portugiesischer Tradition, mit dem Rückzug ins Häusliche, der im Jahr der Pandemie deprimierend zeitgemäß erscheint. Der Autor, Musiker und frühere Filmemacher Afonso Cruz (...) spricht zurückhaltend, ohne jede Inszenierung von seinem Einsiedlerleben im Alentejo. Die Einkehr verhelfe ihm zu seinen Ideen. Viele dieser Autoren sind im Netz unsichtbar, scheuen die Öffentlichkeit, vertrauen darauf, dass ihre Texte für sich sprechen. Die romantische Verklärung des Schriftstellerlebens lässt sich bei ihnen noch mit dem Identitätsgefühl der Saudade, der melancholischen Sehnsucht, vereinen, das Autorinnen wie Isabela Figueiredo überwinden wollen."

Außerdem: Für die Literarische Welt spricht Martin Scholz mit dem Who-Gitarristen Pete Townshend, der mit seinem Romandebüt "Das Zeitalter der Angst" nun auch unter die Schriftsteller gegangen ist. Im Literaturfeature für Dlf Kultur wirft Irene Binal einen Blick in die österreichische Literatur in der Coronakrise. Für den Dlf Kultur widmet sich Michael Opitz in einer "Langen Nacht" dem heute vor 80 Jahren von Nazis in den Tod getriebenen Walter Benjamin.

Besprochen werden unter anderem Saul Friedländers Essay "Proust lesen" (Tagesspiegel), Yoko Ogawas dystopischer Roman "Insel der verlorenen Erinnerung" (taz), Philippe Collins und Sébastien Goethals' Fußballcomic "Das Spiel der Brüder Werner" (Berliner Zeitung), neue Buchveröffentlichungen zum 80. Todestag Walter Benjamins (FR), eine Neuausgabe von John Dos Passos' USA-Trilogie (NZZ), Benjamin Mosers Biografie über Susan Sontag (Literarische Welt) und Richard Middletons Kurzgeschichtensammlung "Das Geisterschiff" (FAZ). Mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr.
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Bühne

Für Zeit Online hat sich Lili Hering mit Julia Wissert, der ersten schwarzen Intendantin an einem deutschen Stadtheater getroffen, die im Eröffnungsstück "2170" ihrer Intendanz am Theater Dortmund auch selbst Regie führte. Das Stück wird an verschiedenen Orten in Dortmund stattfinden - und auch ansonsten hat sich Wissert viel vorgenommen, um alte Strukturen aufzubrechen: "So stünden in Theatern gern kapitalismuskritische Stücke auf den Spielplänen, gleichzeitig sei aber klar, dass Frauen weniger verdienen. Es müsse auf ein neues Postulat hinauslaufen: Es sei ja nicht einfach feministisch, mehr Frauen auf die Bühne treten zu lassen. Eine andere Welt entstünde erst, wenn sie sich behaupte und im Moment des Schaffens Wirklichkeit werde. Kann Diversität am Theater die Norm sein, in irgendeiner Zukunft? 'Ja, ich glaube daran', sagt sie und fügt hinzu: 'Aber die Behauptung in den Raum zu stellen, ist nicht immer einfach.' Auf Theorie und Diskurse legt sie Wert, das hört man ihr an. 'Inhalt, Form und Struktur' sind für sie untrennbar verbunden. So ist auch 2170 die Behauptung einer Nachwelt im Futur Drei, in der alle Stimmen gleich hörbar, alle Körper gleich sichtbar sind."

"In ihrem ersten Aufschlag, für dessen Text sie vier junge Autorinnen und einen Autor beauftragt hat, die in Syrien, Israel, Kroatien, Kurdistan und Deutschland geboren wurden, hat man jedenfalls nicht das Gefühl, lebendigen Figuren zu begegnen, sondern eher Sprachrohren oder Stellvertreter*innen für Thesen zu Geschichte und Soziologie", merkt denn auch Nachtkritiker Max Florian Kühlem an: "Das macht allerdings nichts, weil die gespielten Szenen an den verschiedenen Stationen im Stadtraum meistens nicht wie die Hauptsache erscheinen. Hauptsache sind die Stadt und ihre Bewohner*innen, die die Orte durchpulsen. (…) Die Stadt inszeniert sich mit all ihrer Ambivalenz mit hinein, hat Lust auf die Begegnung mit dem Theater. Das gleiche Spiel am Hinterausgang des Hauptbahnhofs: Der ist sowieso ein spannender Ort. Die Fassade ist gerade aufgerissen bis auf ihren Beton-Grund, die Stadt operiert am offenen Herzen, das weiter Menschen in ihre Adern pumpt: Die gut gekleidete Bettlerin, die die Theater-Zeitreisenden nach 'ein oder zwei Euro' fragt. Den Mann im Rollstuhl, der sich in Zeitlupe am Rand der Wahrnehmung vorbeischiebt."

Besprochen wird Peter Hailers Inszenierung von Ferdinand von Schirachs "Gott" am Staatstheater Oldenburg ("Unterkühlt und debattenarm, meint Jens Fischer in der taz, im Standard bespricht Bert Rebhandl das Stück) und Maxim Didenkos Inszenierung von Kurt Vonneguts "Schlachthof 5" am Europäischen Zentrum der Künste Hellerau (nachtkritik).
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Film

Besprochen werden Katrin Gebbes "Pelikanblut" mit Nina Hoss (SZ), Armando Iannuccis "David Copperfield"-Verfilmung (Presse, FAZ) und das Sterbehilfedrama "Blackbird" mit Susan Sarandon (Tagesspiegel).
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Musik

Die Berliner Zeitung spricht mit Hiphop-Pionier Chuck D von Public Enemy, der nun auch schon 60 Jahre alt wird. Sein neues Album hat daher auch rückblickenden Charakter, im Gespräch geht es auch um die Anfänge in der Bronx: "Das war einfach einzigartig. Die Reime lagen auf der Straße. Das alles begann schon in den Siebzigern, also noch ein paar Jahre vor Public Enemy. Aus allen Straßen drang großartige Musik, überall bewegte sich etwas. Als wir dann mit Public Enemy an den Start gingen, explodierte alles." Heute ist es hingegen so, "als wären es zwei komplett verschiedene Städte. In manchen Dingen hat es sich zum Positiven gewandelt, in anderen zum Schlechten." Positiv etwa ist, "dass die Verfügbarkeit unserer Kultur deutlich gesteigert wurde. Heute wird es jedem leicht gemacht, Rap zu hören. Doch selbst darin liegt wieder ein Problem: Insbesondere die jüngeren Leute sehen das als selbstverständlich an und verlieren den Wert der Kultur aus den Augen." Auch einen Remix des Klassikers "Fight the Power" gibt es auf dem neuen Album:



Eine "Tendenz zur (unfreiwilligen) Selbstmusealisierung ist schwer von der Hand zu weisen", schreibt Carl Melchers in der Jungle World mit Blick auf die Berliner Clubkultur, in den letzten Jahren immerhin ein zentraler Standortfaktor für die Hauptstadt. Diese Tendenz "bedeutet einen weiteren Schritt in Richtung einer Post-Club-Culture, in dem Berlin sich anders betrachten und präsentieren muss als bisher. Ob die Stadt schon dazu bereit ist?"

Weitere Artikel: Tim Caspar Boehme resümiert in der taz das Musikfest Berlin. In einem offenen Brief in der Welt nennt Michael Pilz den Pink-Floyd-Mitbegründer Roger Waters "einen Verschwörungstheoretiker, der uralte antisemitische Geschichten aufwärmt und das Schauermärchen der jüdischen Weltverschwörung." Inga Hofmann porträtiert im Tagesspiegel die in Berlin lebende Popsängerin Mougleta. In der FAZ gratuliert Wolfgang Sandner dem Saxofonisten Gary Bartz zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden neue Alben von Fleet Foxes (taz), Alicia Keys (ZeitOnline) und Bob Mould (Standard), eine Neuauflage von Sigue Sigue Sputniks Debütalbum von 1986 (Freitag) sowie Sufjan Stevens' neues Album "The Ascension", das laut ZeitOnline-Kritiker Daniel Gerhardt mitunter "wunderbar durchgebrannt klingt, nach Kaffeeflecken auf dem Mousepad und verklebten Reglern am Mischpult - wie Songs eben, die man als obsessiv-kompulsiver Eigenbrötler mit zu wenig Platz und zu viel Zeit schreibt." Wir hören rein:

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