Ein frommer Jude, aber auf ganz eigene Weise: Martin Buber ist eine der grossen Figuren des Judentums, auch wenn er vielen als Häretiker galt

Sein Verständnis von Mystik schulte er an den christlichen Mystikern, er war fasziniert von östlichen Glaubenswelten – und trat für die Gleichberechtigung von Juden und Arabern ein: Auch ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod bleibt Martin Buber eine umstrittene Gestalt.

Friedrich Wilhelm Graf
Drucken
Prophet eines neuen Judentums: Martin Buber in einem Bild aus dem Jahr 1962.

Prophet eines neuen Judentums: Martin Buber in einem Bild aus dem Jahr 1962.

Elliott Erwitt / Magnum Photos

1972 wurde Paul Mendes-Flohr an der Brandeis University mit einer Arbeit über Martin Bubers Gesellschaftstheorie promoviert. Seitdem hat der in Jerusalem und Chicago lehrende Historiker der modernen deutsch-jüdischen Ideenwelten zahlreiche Arbeiten über Buber und sein intellektuelles Umfeld publiziert. Nun legt der auch in Deutschland mit hohen akademischen Ehren ausgezeichnete Mitherausgeber der 22-bändigen deutschsprachigen Ausgabe der Werke Bubers im Alter von 79 Jahren sein Opus magnum vor: eine umfassende und in vieler Hinsicht grossartige intellektuelle Biografie des gerade in jüdischen Milieus bleibend umstrittenen deutschjüdischen Sinnsuchers, der noch vergleichsweise spät, 1938, aus Deutschland nach Palästina emigrieren konnte.

Der Untertitel «A Life of Faith and Dissent» gibt Mendes-Flohrs Deutungsprogramm zu erkennen: Sein Buber ist ein sehr frommer Jude, aber dies auf unvergleichlich eigene, ganz individuelle Weise. So provozierte der kleinwüchsige – er war nur 159 Zentimeter gross–, aber dank seinem prophetischen Gestus charismatische Künder eines neuen, modernitätskompatiblen Judentums die entschiedene Ablehnung zahlreicher jüdischer Autoritäten, was zu vielen Konflikten führte.

Der Biograf identifiziert sich mit seinem Helden bisweilen eine Spur zu stark. Aber er wahrt insgesamt kritische Distanz und vermeidet es, Buber zu einem grossen Denker zu stilisieren. Denn zahlreiche Texte, gerade auch das 1923 erschienene Hauptwerk «Ich und Du», sind durch notorische Unschärfe, mangelnde begriffliche Klarheit und aufgeblasene Assoziationsprosa bestimmt. Die daraus resultierende hohe Interpretationsoffenheit seiner situativen Äusserungen mag zu Bubers Erfolg bei den existenziell verunsicherten «Jungjuden» seiner Generation beigetragen haben.

Verstört und verzweifelt

Martin Bubers Leben war durch ein Urtrauma geprägt. Als die Mutter 1881 mit einem russischen Offizier durchbrennt, lässt sie ihren dreijährigen Sohn ohne jeden Abschied verstört und verzweifelt zurück. Der junge Martin Mordechai kam nun in die liebevolle Obhut seiner wohlhabenden väterlichen Grosseltern im galizischen Lemberg, heute Lwiw, die ihre Lebensführung strikt an der Tora in deren orthodoxer Auslegung orientierten. Vor allem der glaubensernste Grossvater Salomon Buber, ein hochgebildeter Privatgelehrter mit grosser Kenntnis jüdischer Überlieferungen, speziell der als Midraschim bekannten Bibelauslegungen, führte seinen Enkel dreisprachig – in Deutsch, Jiddisch und Hebräisch – in den Chassidismus der Ostjuden ein.

Im Alter von zehn Jahren kehrte Martin zu seinem Vater zurück, der nun mit einer zweiten Frau ebenfalls in Lemberg lebte, und besuchte das Polnische Gymnasium der von einem kulturell selbstbewussten, ökonomisch starken jüdischen Bürgertum geprägten Stadt. Dieses stolze Selbstbewusstsein machte sich auch der junge Buber zu eigen – trotz allen selbstkritischen Zweifeln daran, was es denn bedeute, in der von elementarer kultureller Orientierungslosigkeit geprägten modernen Welt ein Jude zu sein. In Wien, Leipzig, Zürich und Berlin studierte der Achtzehnjährige in souveräner akademischer Freiheit Nationalökonomie, Philosophie, Germanistik, Kunstgeschichte, Psychiatrie und Psychologie, bei so bedeutenden Gelehrten wie Wilhelm Dilthey und Georg Simmel.

In grosser intellektueller Neugier wollte er sich neben jüdischen Glaubenswelten auch einen genuin europäischen kulturellen Kanon erschliessen. Unter dem Einfluss des von ihm bewunderten Dilthey, bei dem er 1903 mit einer Arbeit «Zur Geschichte des Individuationsproblems. Nicolaus von Cues und Jakob Böhme» promoviert wurde, las er Schleiermacher, vor allem dessen «Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern», und andere Autoren des deutschsprachigen liberalen Kulturprotestantismus. Inspiriert durch den grossen Berliner Romantiker, entwickelte er früh schon eine für sein religionstheoretisches Denken grundlegende Unterscheidung von «Religion» und «Religiosität».

Was Mystik eigentlich ist

Religion ist die in Riten, heiligen Gebräuchen, Lehrsätzen und autoritativen Geboten objektivierte, in sakralen Institutionen verfestigte Gestalt des Glaubens, die dessen Tradierbarkeit im wechselnden Lauf der Geschichte auf Dauer stellt. Religiosität hingegen ist subjektive Herzensfrömmigkeit, die präreflexive, rational unableitbare Unmittelbarkeit des Einzelnen zu seinem Gott. Buber war ein Emphatiker der Individualität, der, beeinflusst auch von Theoretikern des modernen Anarchismus wie insbesondere seinem engen Freund Gustav Landauer, mit starken Worten immer ein Eigenrecht des Einzelnen gegen die Zwangsmechanismen von Staat, kapitalistischer Ökonomie und objektiver Religion einklagte.

So faszinierten ihn die reichen Traditionen religiöser Mystik, nicht nur in Judentum und Christentum, sondern auch in östlichen Glaubenswelten wie vor allem dem Buddhismus. Sein Konzept der Mystik entwickelte Buber in kritischer Auseinandersetzung mit Ernst Troeltsch, der in seinen «Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen» die «Mystik» als eine dritte Form religiöser Vergesellschaftung neben «Sekte» und «Kirche» eingeführt hatte. Buber hingegen erklärte am Ersten Deutschen Soziologenkongress 1910 in Frankfurt, dass Mystik keine soziologische, sondern allein eine «psychologische Kategorie» sei: Mystik sei «die unbedingte Religiosität, weil in ihr der eigentliche Inhalt des religiösen Erlebens, die Beziehung eines Menschen zu dem als Gott Empfundenen am unbedingtesten realisiert ist».

Dass dieses Unbedingtheitspathos Buber unausweichlich in harte Auseinandersetzungen mit den Repräsentanten objektiver Religion bringen musste, ist evident. Kontroversen um das angemessene Verständnis des Jüdischen und religionspolitischer Streit bilden denn auch, wie Mendes-Flohr zeigt, eine starke Konstante in Bubers Leben. Wer mit den altisraelitischen Propheten geistliche Erneuerung durch Rückgang auf die biblischen Wurzeln und Reform des Glaubenslebens durch Abstossen von Traditionsballast einklagt, macht sich unter seinen Glaubensgenossen keine Freunde.

Eine jüdische Renaissance

Dies zeigte sich selbst in Palästina und Israel, wo Buber zwar ein berühmter, aber vielfältig als Häretiker angefeindeter Mann war. Zu seiner Aussenseiterstellung trug bei, dass er 1907 trotz Einwänden seiner Familie Laura Winkler geheiratet hatte, eine gebildete Frau aus streng katholischer Familie, mit der er zwei zunächst aussereheliche Kinder hatte. Sie konvertierte um ihres Mannes willen zum Judentum, blieb vielen von Bubers zionistischen Freunden aber gleichwohl suspekt.

Martin Buber lässt sich als ein moderner Religionsintellektueller deuten, der, beeinflusst hier vor allem von Friedrich Nietzsche, mit grandioser Souveränität aus den heterogenen Überlieferungen der diversen Judentümer das auswählte und umformte, was ihm für die Tradierung des Jüdischen in einer für die jüdischen Gemeinschaften Europas dramatischen Gegenwart wichtig erschien. Schon der junge Zionist, der den politischen Zionismus seines zeitweiligen Ziehvaters und Förderers Theodor Herzl zugunsten eines «Kulturzionismus» überwinden und so eine «jüdische Renaissance» herbeiführen wollte, deutete die Rückkehr ins Heilige Land vorrangig als ein geistliches und weniger als ein politisches Projekt.

Mit seinem «Biblischen Humanismus» trat er für die Gleichberechtigung von Arabern und Juden in einem gemeinsamen Staat ein. In einem scharfen Schriftwechsel mit Mahatma Gandhi, der die jüdische Besiedelung Palästinas für ein Unrecht an der arabischen Bevölkerung erklärt und von den europäischen Juden gefordert hatte, sich gegen Hitlers Unterdrückungspolitik allein mit den Mitteln gewaltfreien Widerstands zu wehren, verteidigte Buber vehement das Heimatrecht der Juden als einer Nation. Der naive Idealist oder gar harmonistische Phantast, als der er oft gescholten wurde, war er nicht. Dies zeigt nicht zuletzt seine bisweilen inhumane völkische Sprache: Der junge Buber konnte zustimmend von «Volksinstinkt», «Blutstamm», «Samenkörpern des Volkstums» und gar «Menschenmaterial» reden.

Sehr viel deutscher, als ihm selbst bewusst war

Dank jahrelanger intensiver Arbeit in Archiven kann Mendes-Flohr Bubers Leben und Denken in bisher unerreichter Prägnanz und Differenziertheit darstellen. Allerdings fällt auf, dass er die jüdischen Lebenswelten, in denen Buber sich bewegte, und hier speziell die Freundschaften mit Glaubensdenkern wie Franz Rosenzweig und Samuel Agnon genauer, einfühlsamer zu erfassen vermag als die deutschen nichtjüdischen, speziell protestantischen Kontexte, die Bubers Weltwahrnehmung und Denken sehr stark prägten.

Als sein Freund Hans Kohn den aus Hamburg stammenden, seit 1938 in New York lebenden deutschjüdischen Bankier Max Warburg um Mittel zum Ankauf von Bubers Bibliothek für die Hebräische Universität bat, lehnte der sonst sehr grosszügige Mäzen auch mit dem Argument ab, Buber sei sehr viel deutscher, als er selbst wisse. Dem wird Mendes-Flohrs souveränes Porträt nur partiell gerecht. Aber die Summe seines langen Gelehrtenlebens mit der immer neuen Arbeit an Bubers Gedächtnis ist mit grossem Abstand das Beste, was man derzeit über den aus Wien stammenden galizischen Glaubensreformer lesen kann, der noch in Zion die politischen Konflikte zwischen Arabern und Juden mit Goethe-Zitaten lösen wollte.

Paul Mendes-Flohr: Martin Buber. A Life of Faith and Dissent. Yale University Press, New Haven / London 2019. 440 S., Fr. 41.90.

Weitere Themen