"Berlin, du deutsches Zauberwort", singt Sophie Hunger in Electropolis, einem Song von ihrem letzten Album Molecules. Die Hauptstadt muss seit Jahrzehnten, ach was, seit Jahrhunderten herhalten, wenn Leute ihre Träume ausleben oder den Flaneur in sich entdecken. Auch der 1983 geborene Lorenz Just schreibt sich mit seinem Debütroman in diese lange und immer mal wieder gefährlich langatmige Tradition ein. Am Rand der Dächer ist bei DuMont erschienen und erzählt vom Aufwachsen im Berlin der Neunzigerjahre, von der "allmählichen und lückenlosen Ausdeutung von Berlin-Mitte", wie der Autor es im Gespräch mit seiner Lektorin ausdrückt.

Andrej lernt gleich auf der ersten Seite Simon kennen, mit dem er fortan die üblichen Freundschaftsdinge tut: über Brachflächen stromern, Softair-Pistolen kaufen, erste Biere trinken und das restliche Jungs-Tamtam. Die wilde Umbruchszeit nach der Wende klingt aus Andrejs Mund dabei so: Die Besetzer ganz in der Nähe seiner Wohnung sind ein "hektisches Piratenvolk", und als er, der zu Beginn acht Jahre alt ist, sich zwischen labyrinthischen Dachgeschossen sonnt, wird sein "wunderbares Vagabundenlager" gepriesen. Selbst die Aggro-Trottel, die mal Simon, mal Andrej anpöbeln, werden nicht als das benannt, was sie sind, nämlich Aggro-Trottel, sondern als "die Wegelagerer von der Friedrichstraße", als gelte es, einen Erlebnisaufsatz über großstädtische Cowboys zu betiteln.

Soll sich die Tragik des Erwachsenwerdens in einer Sprache spiegeln, die nur mehr als Phrase von ihrem Gegenstand erzählen kann? Oder soll das Märchenhafte des jungen Blicks in diesem Karl-May-Sound seine Entsprechung finden? Das überzeugt schon deswegen nicht, weil der Erzähler seine eigene Kindheit regelmäßig historisch-kritisch kommentiert. Wenn der junge Andrej nach einer Basketball-Partie in seine Dragonball-Hefte "abtaucht", fügt der alte Andrej im selben Satz an, dass das ja "gewaltverherrlichende Comics" seien. Wenn man als Leser anfängt, solche Kollisionen zu spüren, ist das Direkte, das der Kindersicht innewohnt, jedenfalls längst auf der Strecke geblieben.

Der Blick des Heranwachsenden

Diese Konstellation bestimmt indes weite Teile des Romans: Die Hauptfigur, die die urbane Entwicklung und weltanschauliche Verschiebung jener Jahre am kindlichen Leib erfährt, hat natürlich kein soziologisches oder städteplanerisches Wissen, um die Lage zu bewerten. Sie ist ja erst neun, zwölf, dann vierzehn und damit (bis auf ein programmatisch anmutendes Interesse an Einschusslöchern) ziemlich polit- und geschichtsblind. Deswegen tritt der ältere Andrej auf den Plan, grob so alt wie der Autor, blättert durch alte Tagebucheinträge und will dem Text immer wieder so etwas wie Aussagekraft verleihen: "Dass diese Identität, an der wir uns orientierten, einen krassen kulturellen Keil zwischen uns und unsere ostdeutschen Eltern trieb, vertrug sich ganz gut mit der Entfremdung von ihnen, die in diesem Alter eh normal war."