Das Gedicht als Abenteuer

Levin Westermann reflektiert im Essayband „Ovibos moschatus“ die Grundlagen seines Schreibens

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ins „Land, wo die Zitronen blühn“ und wo „die Myrte still und hoch der Lorbeer steht“, da zieht es die Dichter/innen seit jeher in Scharen hin. Allein der Lyriker Levin Westermann zählt mit Sicherheit nicht zu ihnen. Sein poetischer Quell liegt nicht unter wärmender Sonne, sondern im ewigen Eis des Nordens. Sein Wappentier ist der Ovibus moschatus, der Moschusochse, das einzige Tier, „das die Eiszeit in Nordamerika überlebt hat“. Unerschütterlich trotzt er, perfekt angepasst, der eisigen Natur in Würde und in Unschuld. Das beeindruckt den Dichter.

Deshalb zieht es Levin Westermann dahin, wo die Moschusochsen leben. Er sucht jene Landschaften, in denen die Farben in den vielfältigen Schattierungen von Weiß und in der unterschiedlichen Körnung des Schnees aufgehoben sind. Vor allem aber beeindruckt ihn die Wahrnehmungstiefe der Arktismenschen wie der Netsilingmiut, deren Heimat eine der kargsten Regionen der Erde ist. Umgeben von Eis und Nebel, in ärgsten Schneestürmen, bewahren sie stets die Orientierung, indem sie auf das Licht, den Wind, die Geräusche, die Gerüche zu achten verstehen. In ihrem Sinn ist auch für den Dichter Westermann das ewige Eis die reinste Form von Natur. Allerdings sieht er sich selbst nicht als Polarforscher, ja er steht solchen sehr skeptisch gegenüber, weil sie die Arktis oder die Antarktis lediglich besuchen, um hier ihren Heldenmut zu beweisen. Davon hält er sich fern. Anstatt im Eis findet er die ideale Natur in seinem Alltag im Wald, in den Bergen und beim Laufen.

Davon berichtet seine Essaysammlung Ovibos moschatus. Der Autor offenbart darin, wie seine Vorliebe für Schnee und Eis selbstredend eine poetische Dimension hat: „Denn Inspiration ist für mich das sichtbare Ergebnis einer intensiven Form der Konzentration.“ In mehreren Versuchen geht Westermann dem Gedicht als Abenteuer auf den Grund: „Das Abenteuer ereignet sich in der Landschaft aus Eis, der Landschaft aus Stein, der Landschaft der Seele“, heißt es einmal. Im Gedicht gibt es für ihn kein Spiel, auch keine politische Relevanz, kein Rätsel, kein Richtig oder Falsch.

Poesie ist, frei nach der Dichterin Muriel Rukeyser, „das Universum der emotionalen Wahrheit“. Seine Notwendigkeit, so Ilse Aichinger, eine zweite wichtige Referenz, „hat mit Not zu tun“. Auf dieser Ebene der Emotion und der Seele, ergänzt Westermann, „berührt mich die räumliche und zeitliche Dimension der Isolation der Paläo-Eskimos zutiefst“.

Westermanns Essays sind Versuche, die Not und Notwendigkeit des Dichtens für sich selbst festzuhalten und sie darüber hinaus, den Leser/innen nahe zu bringen. Seine letzten zwei Gedichtbände verraten eine erratische Konzentration sowohl in freien Versen (in 3511 Zwetajewa) wie in der strengen poetischen Form (bezüglich der schatten). Offenheit und Gebundenheit verbindet er auch in seinen Essays, indem er ständig zwischen ethnologischen Betrachtungen, naturphilosophischen Reflexionen und poetischen Vorbildern mäandert und sie miteinander in einen Einklang bringt. Das Schreiben geschieht nicht aus reiner Freude am Handwerk, hält er fest, „sondern weil es einem erlaubt, die Sprachlosigkeit zu überwinden, in der man gefangen war“. Und weiter: „Es geht um Kontrolle und Disziplin“, wie bei den Netsilingmiut, wenn sie einen Schneesturm überstehen.

Es ist faszinierend zu verfolgen, wie Westermann diesen Gedanken ausfaltet und dafür immer wieder auch lyrische Vorbilder mit ins Spiel bringt, die selten auf dem Radar des Mainstreams auftauchen, sondern Entdeckungen verheißen. Was in den meisten Fällen wunderbar funktioniert und Disparates wie Mayröcker und Shackletons Antarktis-Expedition in eine Beziehung zueinander setzt, geht leider dem längsten Text des Bandes etwas ab.

Westermanns Plädoyer dafür, dass Tiere nicht nur als Objekte, sondern als kommunikative Wesen ernst zu nehmen seien, fällt unmissverständlich aus. Er hält unser Verhältnis zum Tier mit Milan Kundera für ein „grundlegendes Versagen des Menschen“, das sich an der Cartesianischen Philosophie festmachen lasse und bis heute nachwirke. Keine „Theory of Mind“ befasse sich mit der Tiersprache. In der leidenschaftlich ausgeführten Vehemenz geht ihm jedoch vergessen, was die anderen Essays so anregend macht: die stringente Verknüpfung mit der Poesie. Worin liegen die Gemeinsamkeiten der Tiersprache mit der menschlichen Dichtung? Und wie ließe sich poetisch auf ein Verständnis für tierische Kommunikation zurückschließen? Hier bleibt Levin Westermann einen Schritt hinter seinem Versprechen, das er in den anderen Beiträgen in diesem Band einlöst.

Ein Effekt der Aufklärung sei es gewesen, zitiert er den Filmkritiker Anthony Lane mit Blick auf den Film Vvitch, „dass das Feuer der Hölle immer kleiner gedreht und die Asche weggefegt wurde“. Dem widerspricht Levin Westermann grundsätzlich nicht. Die Aufklärung hat die Rechthaberei der monotheistischen Religionen ausgehebelt. In der Poesie jedoch stößt auch die Aufklärung an ihre Grenzen. Poesie ist Konzentration und Notwendigkeit, nicht Parteilichkeit oder Auftragsarbeit, bekräftigt er in diesen Essays. So navigiert er sein Dichten und Verdichten gekonnt durch die Lücke zwischen Aufklärung und Rechthaberei hindurch.

 

Titelbild

Levin Westermann: Ovibos moschatus. Essays.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020.
160 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783751800020

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