Die Aktualität literarischer Utopien

In seiner Dissertation „Utopien in utopiefernen Zeiten“ geht Emanuel Herold dem Erkenntniswert literarischer Utopien nach

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Utopien stehen bekanntlich bereits seit einigen Jahrzehnten nicht eben hoch im Kurs. Zu Unrecht, sagt Emanuel Herold, jedenfalls was literarische Utopien betrifft. Dies zu begründen, hat er einen „literatursoziologischen Ansatz“ entwickelt, mit dem er „literarische und soziologische Diskurse sinnvoll miteinander ins Verhältnis“ setzen möchte. Letztlich aber bleibt der Soziologe jedoch der Herangehensweise seiner eigenen Disziplin verhaftet.

Dass die Soziologie „[i]n Abgrenzung zu literaturwissenschaftlichen Zugängen“ beleuchte, „unter welchen sozialen Bedingungen welche Utopien formuliert und akzeptiert werden“, verkennt allerdings die Bandbreite literaturwissenschaftlicher und -theoretischer Zugangsweisen. Denn für die außerliterarischen Bedingungen der Literatur und ihrer Produktion interessiert sich beispielsweise auch ein literaturwissenschaftlicher Ansatz namens New Historicism und mehr noch die – heute allerdings als überholt geltende – marxistische Literaturtheorie. Auch dürften literaturwissenschaftlich geschulte Menschen darüber stolpern, dass Herold immer wieder von einer „fiktiven Zukunft“, einer „fiktive[n] Welt“, einer „fiktiven Geschichte“ etc. spricht, wenn eigentlich jeweils fiktional gemeint ist.

Im Unterschied zu früheren Utopietheorien wie sie etwa von Reinhard Koselleck vertreten wurden, löst Herold die Utopie aus guten Gründen „vom Begriff des Fortschritts und seinen geschichtsphilosophischen Implikationen“. Nun mag er damit für die Soziologie einen recht neuen Weg beschreiten; für die Literaturwissenschaft, die sich mit fiktionalen utopischen Gesellschaften in Romanen, Erzählungen und Theaterstücken befasst, ist dies allerdings keine gar so bahnbrechende Erkenntnis. Ebenso wenig hängen sie wie manche SoziologInnen ‚alten Schlages’ einem „verkürzte[n] Utopiebegriff“ an, dem gemäß „imaginierte[.] Utopien einen Endpunkt der Geschichte in Form einer besten sozialen Ordnung“ beschreiben.

Eine Erkenntnis, zu der im Übrigen auch die Politologin Barbara Holland-Cunz angesichts feministischer Utopien der Neuen Frauenbewegung gelangte – und zwar bereits in den 1980er Jahren. Denn die einschlägige feministische Literatur aus dem Umfeld der in den 1970er Jahren machtvoll anschwellenden Neuen Frauenbewegung hat zahlreiche Werke geschaffen, die als beispielhaft für in einem prekären Umfeld angesiedelte Utopien angesehen werden, die weder eine ideale Gesellschaft beschreiben, noch einen Endpunkt der Geschichte imaginieren. Helene Judeich erdachte für ihre ebenfalls feministischen Utopie Neugermanien sogar bereits 1903 eine Gesellschaft, die keineswegs den Endpunkt der Geschichte bilden sollte.

Ursula K. Le Guin wiederum veröffentlichte mit The Left Hand of Darkness (1969) eine Geschlechterutopie in einer ansonsten keineswegs idealen Gesellschaft und Sally Miller Gearharts: Wanderground. Stories of the Hill Women (1978) ist sogar in einer quasi außergeschichtlichen, einigermaßen phantastischen Welt angesiedelt. Werke wie das ihre sprengen denn auch Herolds „Lesart utopischer Literatur“, der zufolge „die Pluralität und Reflexivität von Zeitkonstruktionen“ einer der „wesentlichen Bestandteile[.]“ literarischer Utopien ist.

Im Zentrum seiner Untersuchung steht die Frage, inwiefern Utopien „den Wandel moderner Zeitverhältnisse reflektieren“ und damit „offenlegen, welche Geschichtsverständnisse mithilfe bestimmter Zeitbegriffe und -metaphern sowie narrativer Konstruktionen in utopischer Literatur zum Ausdruck gebracht wird“. Herold zufolge weichen literarische Utopien vom „offiziösen Zeitverständnis der fortschrittlichen Moderne“ ab und eignen sich eben darum als „eine Ressource für eine Neubestimmung des zeitgenössischen Zukunftsverständnisses“. Daher seien sie in der Lage, „einen Beitrag zur Beantwortung der Frage zu leisten: Was kann es heutzutage bedeuten, sich eine wünschenswerte Zukunft vorzustellen?“

Die inhaltlichen Ausgestaltungen der Utopien scheinen ihn zunächst etwas weniger zu interessieren. Dabei sind gerade sie es, die Utopien dazu befähigen, an die politischen und gesellschaftlichen Zustände ihrer Entstehungszeit anzuknüpfen. Am Ende seiner Untersuchung wendet sich Herold anhand von sechs „exemplarische[n] Texte[n]“ aus „drei historischen Etappen“ dann jedoch auch den (utopischen) Entwürfen der fiktionalen Gesellschaften zu. Dabei nimmt er jeweils „zwei einander zeitgenössische Texte in Augenschein“ und bezieht sie aufeinander. Es handelt sich einmal um Looking Backward 2000-1887 (1888) von Edward Bellamy und William Morris’ News from Nowhere (1890), sodann um Ernest Callenbachs Ecotopia (1975) und Marge Piercys Woman at the Edge of Time (1976) sowie schließlich um Dale Pendells The Great Bay (2010) und New York 2140 (2017) von Kim Stanley Robinson.

Zuvor aber erörtert Herold, unter anderem anhand eines Schnelldurchgangs durch die Geschichte literarischer Utopien, zunächst die Frage, ob literarischen Texten überhaupt ein „soziologisches Erkenntnispotential zugeschrieben werden kann“, und kritisiert sodann ebenso ausführlich wie fundiert die in der soziologischen Utopieforschung übliche Reduktion literarischer Utopien „auf spezifische geschichtsphilosophische Ideen“ und deren auf dieser falschen Annahme gründenden Folgerung, ebenso wie politische Utopien seien auch literarische „in einer dynamisierten spätmodernen Gesellschaft […] nicht mehr anschlussfähig“.

Herolds Abriss der Geschichte der (literarischen) Utopien macht deutlich, wie der Übergang von der Raum- zur Zeitutopie ab dem 18. Jahrhundert „[e]ntscheidend“ dazu beitrug, dass sich der „Fokus der literarischen Konstruktion […] von der unmittelbaren Kontrastierung von kritisierter Wirklichkeit und alternativer Gegenwelt hin zur Darstellung des historischen Übergangs zwischen beiden Welten“ verlagerte. So werde der „imaginierte historische Zusammenhang zwischen kritisierter Gegenwart und entworfener Zukunft […] zunehmend zum Gegenstand der Reflexion innerhalb der literarischen Utopie“. Diese Entwicklung gehe mit einem neuen, durch die Aufklärung angestoßenen „Zeitbewusstsein“ einher, das „sich im Begriff des Fortschritts [kristallisierte]“. Eben hier hat, Herold zufolge, die Verknüpfung der (Zeit-)utopie mit dem Fortschrittsgedanken seinen Ursprung.

In seinem genauen und kenntnisreichen Durchgang durch die Entwicklung politischer und soziologischer Utopietheorien und -kritiken zeigt Herold, wie die politischen Utopietheorien zunehmend von den soziologischen abgelöst wurden und sich somit „von einer Kritik der Utopie aufgrund ihrer gewaltsamen Implikationen […] hin zu einer Kritik der Utopie als zeitstrukturell obsoletes semantisches Erbe“ verschoben. Die politische und soziologische Utopiekritik teilen allerdings das ihnen gemeinsame „Verständnis der Utopie als eines fixierten Plans, der nach Umsetzung verlangt“, und weiten es – wie Herold kritisiert, fälschlicherweise – auf literarische Utopien aus, die sie daher „unreflektiert und vorschnell“ in die „Verabschiedungen und Verurteilungen ‚der Utopie’“ einschließen. Herold macht dies insbesondere an der Utopiekritik von Reinhart Koselleck, aber auch an denjenigen von Armin Nassehi und Jürgen Habermas deutlich.

Die im abschließenden Teil des Bandes vorgenommenen Textanalysen dienen Herold dazu, seine Befunde „zu untermauern“ und nach dem „konkreten Erkenntniswert[.] utopischer Literatur für das gesellschaftstheoretische Nachdenken über den sozialen Wandel“ zu fragen. Sein Vergleich zwischen Bellamys Looking Backward und Morris’ News from Nowhere arbeitet heraus, wie sehr sich die beiden, Ende des 19. Jahrhunderts erschienenen Romane in „zeittheoretischen Hinsichten“ unterscheiden. Hängt ersterer noch einem vermeintlichen „abstrakte[n] historische[n] Gesetz“ unabweislichen Fortschritts an, „bekennt“ sich letzteres „zur Kontingenz der Geschichte“, jedenfalls nachdem die kapitalistischen Verhältnisse abgeschafft sind.

Die Aufbruchsstimmung in den 1970er Jahren prägte die beiden anschließend beleuchteten Romane: Callenbachs Ecotopia und Piercys Woman at the Edge of Time, die „geradezu komplementär akzentuiert“ seien. Während Callenbach „eine ökologische Gesellschaft [entwarf], die auch Impulse des feministischen Diskurses aufnimmt“, schuf Piercy „eine feministische Vision, welche auch für ökologische Probleme sensibilisiert ist“. In Callenbachs Roman macht Herold eine Zeitutopie aus, die „auf die Geltungsansprüche einer teleologischen Geschichtsphilosophie grundsätzlich verzichtet“. Doch Piercys Roman übertreffe dessen „Sinn für historische Kontingenz“ noch. Ja, er sei sogar „so weit entfernt von einer Teleologie der Geschichte wie überhaupt nur möglich“. Zudem sei er „deutlich experimenteller“ als Ecotopia, „wodurch die Merkmale einer kritischen Utopie […] noch klarer hervortreten“. „Wirklich neuartig“ aber sei Piercys „Zukunftswelt“ vor allem „in der Darstellung sozialer Reproduktion, wodurch der feministische Kern ihrer Utopie hervortritt“. Tatsächlich griff die Autorin mit den in Brütern heranwachsenden Embryonen die Vorstellung ihrer feministischen Zeitgenossin Shulamith Firestone auf, die eine emanzipatorische Hoffnung in die künstliche Reproduktion setzte, da diese Frauen vom Joch der Schwangerschaft und der Last des Gebärens befreien könne.

Die letzten beiden Bücher des von Herold untersuchten Quellenkorpus wurden im 21. Jahrhundert verfasst und können somit als zeitgenössisch gelten. Pendells Roman The Great Bay wird vom Autor als „überaus experimentierfreudige[r] Text“ gewürdigt, den „eine Collage von Kurzgeschichten, Zeitungsausschnitten, Interviewfragmenten, einem Reisetagebuch und klimatologischen Erörterungen“ bilde, die durch „paratextuelle Elemente“ ergänzt werde. Allerdings hat Pendells Text-Collage einen Vorläufer in Ursula K. Le Guins noch um einiges experimentierfreudigeren Utopie Always Coming Home aus dem Jahr 1985. Die „utopische Provokation“ von Pendells Roman besteht Herold zufolge in der „Verflechtung von individueller, sozialer und klimatischer Geschichte“ sowie darin, „unter den massiven Verwerfungen einer solchen [dystopischen, RL] Zukunft die Möglichkeit von Menschlichkeit im emphatischen Sinne zu behaupten“. „Noch entschiedener“ wende sich Robinsons New York 2140 „gegen die paralysierende und eskapistische Untergangslust der Gegenwart“. Nachdrücklich stelle der Roman „in Aussicht, dass auch eine von klimatischen Verwerfungen geprägte Zukunft“ selbst dann „nicht ohne Hoffnung auf ein besseres Zusammenleben sein muss“, wenn sich der Kapitalismus „als noch anpassungsfähiger“ erweist als die Menschen, die in ihm leben. All das vermag Herold zwar überzeugend darzulegen, ob sich die beiden Romane allerdings überhaupt noch sinnvollerweise dem Genre zuschlagen lassen oder ob dies nicht den Utopie-Begriff überdehnt, ist zumindest fraglich.

Auch ist die Auswahl der analysierten Texte zwar nachvollziehbar und dazu geeignet Herolds Thesen zu stützen, doch stellt sich die Frage, ob eine andere Zusammenstellung nicht zu etwas anderen Ergebnissen geführt hätte. Zu denken wäre dabei etwa an Werke wie Judeichs Neugermanien (1903), The Left Hand of Darkness (1969) und The Dispossessed (1974) von Le Guin, Miller Gearharts The Wanderground (1978) und Gioconda Bellis El país de las mujeres (2010), von denen einige in mancher Hinsicht von dem Herolds Untersuchung zugrunde liegenden Schema abweichen.

Dennoch handelt es sich bei Herolds Buch um einen wertvollen Beitrag zur Utopieforschung, der den „in der Generierung eines Wissens um Möglichkeiten“ liegenden (soziologischen) Erkenntniswert literarischer Utopien aufzuzeigen vermag. Angemerkt sei allerdings auch, dass Herolds Dissertation die an eine solche Qualifikationsarbeit gestellten (formalen) Anforderungen derart peinlich genau befolgt, dass dies nicht eben zur Lesbarkeit des Buches beiträgt. Dafür bedient er sich des generischen Maskulinums, „[u]m den Lesefluss nicht zu beeinträchtigen“, und kramt damit die älteste Rechtfertigung für die Beibehaltung „des Deutsch[en] als Männersprache“ (Luise F. Pusch) vom Boden der Mottenkiste maskulinistischen Sprachgebrauchs hervor. Einmal aber unterläuft auch Herold ein Großes Binnen-I, mag es auch nur in einer Fußnote sein.

 

Titelbild

Emanuel Herold: Utopien in utopiefernen Zeiten. Zukunftsdiskurse am Ende der fortschrittlichen Moderne.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
280 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835338067

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