Der kürzlich 60 Jahre alt gewordene Maxim Biller bemerkte 2018 in seiner Heidelberger Poetikvorlesung, dass "echte Literatur" niemals das "Zeichnen von Heiligenbildern" oder "nationale Propaganda in Schönschrift" sei, sondern nur "die Wahrheit und nichts als die Wahrheit". Er monierte, dass die schreibenden Enkel der NS-Generation ihren Altvorderen kaum jemals kritische Fragen gestellt hätten. Seien sie doch mit Großmüttern und Großvätern aus einer "verdorbenen, seelisch zerfurchten Generation" aufgewachsen, die sie "zu Hause, im privaten Kreis, meist ganz anders erlebt hatten, als liebe, alte, rührende Männer und Frauen". Dies sei ein Widerspruch gewesen, mit dem "sie als kollektivhörige, konsenssüchtige Deutsche von heute" nicht zurechtgekommen seien.

Das bedeutet nun nicht, dass es keine literarische Auseinandersetzung mit der familiären NS-Geschichte gegeben hätte oder geben würde – das Genre des Generationenromans ist und bleibt ein Dauerbrenner, mit dem vor allem auch die Verlage Kasse machen können. Selbst literarisch eher belanglose Bücher wie die Chronik Bis wieder einer weint der 1970 geborenen Autorin Eva Sichelschmidt, eine regionale Nachkriegsfamiliengeschichte aus dem Ruhrgebiet, in der die Nazizeit allerdings nicht im Mittelpunkt steht, landen auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis.

Das alles, Verharmlosung durch empathisches Erzählen bei gleichzeitigem Ausschweigen über konkrete Verwicklungen, korrespondiert bis hierhin mit einer Unschärfe im familiären Geschichtsbewusstsein, die nachweislich über das Literarische hinausgeht. Bereits vor fast 20 Jahren belegte die Studie Opa war kein Nazi des Soziologen Harald Welzer, dass die nebulösen Erzählungen der im Nazi-Reich erwachsen gewordenen Großeltern von deren Enkelgeneration gern weiter ausfantasiert und zu "kumulativen Heroisierungen" umformuliert werden. 2018 ergab dann eine repräsentative Umfrage, die Forscher der Universität Bielefeld im Auftrag der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ) durchführten, dass 70 Prozent der Befragten verneinten, überhaupt NS-Täter in der eigenen Familie zu haben. 54 Prozent gaben vielmehr an, bei ihnen habe es Opfer des Nationalsozialismus gegeben. 18 Prozent meinten sogar, ihre Vorfahren hätten Juden im "Dritten Reich" aktiv geholfen, während man historischen Erkenntnissen nach maximal nur von einem Prozentsatz von 1,6 ausgehen kann. Es hat also über 10-mal weniger Zivilcourage in der damaligen deutschen Gesamtbevölkerung von etwa 60 Millionen gegeben, als Bürger der Bundesrepublik, die Nachkommen, heute glauben.

Doch es gibt auch gegenläufige Tendenzen: Während mit Täterinnen und Opfern auch emotionale Bindungen sterben, erwacht fast folgerichtig das Interesse daran, wie es nun wirklich war. Stimmt es überhaupt, dass der herzensgute und zutiefst fromme Opa nur Dienst fernab der Front in einem Sanitätskorps tat? Und selbst wenn, was hat er bei seiner Stationierung in Warschau vom Holocaust mitbekommen, beziehungsweise: Inwiefern war er, vielleicht doch, unmittelbar an ihm beteiligt? "Immer mehr Enkel wollen wissen, welche Rolle ihre Großeltern im Nationalsozialismus eingenommen haben", konstatierte der Deutschlandfunk im April. Die Urenkel und ihre Sicht auf die Urgroßeltern könnte man hier wohl mit Fug und Recht ergänzen.

Dies aber schlägt sich nun in gewisser Weise auch in der Literatur nieder. Die betreibt zwar keine Amateurgeschichtsschreibung, sucht sich aber ebenfalls neue, distanziertere Zugänge. Zunächst einmal fällt dabei auf, dass es jetzt vor allem Frauen sind, die Romane oder auch Graphic Novels über Generationenkonflikte und den familiären Umgang mit der NS-Schuld schreiben – neben Sichelschmidt, in deren Roman dies wie gesagt nur eine kleine Nebenhandlung bildet, sind hier vor allem die aktuellen Publikationen von Nora Krug, Ulla Lenze und Valerie Fritsch zu nennen, letztere in diesem Jahr ebenfalls auf der Buchpreis-Longlist. Sei es aus der Perspektive der faktischen Auswanderung der Autorin (wie im Fall von Krugs Graphic Novel Heimat), auf Basis historischer Recherchen über einen emigrierten Familienvorfahren (in Lenzes Roman Der Empfänger) oder einer weiten Reise bis nach Zentralasien (in Fritschs Roman Herzklappen von Johnson & Johnson) beschreiben diese Verfasserinnen das Rätsel der NS-Verstrickung nicht mehr vornehmlich in Szenen der eigenen lokalen Herkunft. Der Blick zurück geschieht aus weitest denkbarer Ferne auf die eigenen oder auch literarisch konstruierte Familienkreise.  

Die wohl poetischste dieser jüngsten Familienerzählungen, Herzklappen von Johnson & Johnson, endet mit einer langen Reise, welche ihre Grazer Autorin tatsächlich selbst unternahm, wie sie in der SWR-Sendung lesenswert ihrem Gesprächspartner Denis Scheck verriet. Fritschs Protagonistin Alma fährt mit ihrem Mann Friedrich, einem Fotografen, und dem kleinen Sohn Emil im Auto durch ganz Südosteuropa, um im fernen Kasachstan Spuren eines Kriegsgefangenenlagers zu suchen. Dort war ihr Großvater als Wehrmachtssoldat inhaftiert, bevor er Jahre später zu seiner Familie in Österreich zurückkehrte, um sich über seine Taten im NS-Vernichtungskrieg strikt auszuschweigen.