Grausamkeit in Gestalt einer kleinen schönen Frau

Minka Pradelski umkreist in „Es wird wieder Tag“ das Teuflische

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fiktionalisierungen des Unsagbaren bergen das Risiko des allzu Reißerischen einerseits und der übergroßen Sentimentalisierung andererseits. Während Honigtot von Hanni Münzer und Der Winter der Welt von Ken Follett, beide hochkarätige realistische Konsum- und Bestsellerromane sowie repräsentativ für Hunderte von Beispielen aus den letzten Jahren, das Grauen in packende Spannung kleiden, wählt John Boyne mit seinem einfach erzählten Jugendroman Der Junge im gestreiften Pyjama den Weg des vielleicht allzu Sentimentalischen und Verstörenden. Einen passenden Mittelweg, eine angemessene und erinnerungskulturell wertvolle Form der Narration zu finden, ist nicht unmöglich, wie Judith Kerrs moderner Klassiker Als Hitler das rosa Kaninchen stahl, 2019 hervorragend verfilmt von Caroline Link, verdeutlicht. Ähnlich ist es bei Minka Pradelski.

Im Gegensatz zu jener ist diese bereits eine „Nachgeborene“, denn sie kam 1947 in einem Lager für Displaced Persons bei Frankfurt zur Welt. In den 1980er Jahren hat sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Frankfurter Sigmund-Freud-Institut viele Geschichten von Holocaust-Überlebenden gehört und diese in ihren Romanerstling, Und da kam Frau Kugelmann (2005), einfließen lassen. In ihrem nun vorliegenden zweiten Roman beschreitet Pradelski einen ähnlichen, aber dennoch anderen Weg der Auseinandersetzung mit Geschehnissen der NS-Zeit und deren Nachwirkungen. Sie kompiliert nicht nur unterschiedliche Perspektiven und narrative Stimmlagen, sondern mit der Weltsicht eines Säuglings überhöht sie den realistischen Grundduktus ihres Textes ins Fantastische hinein.

Exakt an Heiligabend 1946 wird Bärel in einem katholischen Krankenhaus in Frankfurt am Main geboren. Er ist der Sohn von Klara und Leon Bromberger, die sich in einem Lager für Displaced Persons kennengelernt haben, nun in Frankfurt Zeilsheim wohnen und planen, nach Amerika auszuwandern. Bärel erzählt von seiner Geburt und den ca. zwölf Monaten danach, als er mit seiner Turbo-Entwicklung einige Kinderfrauen entsetzt und man ihm, dem „kratzenden, beißenden, kickenden Bengel“ auf einem Kindergeburtstag den Spitznamen „Krabeiski“ verpasst. Sein rundum angenehmes Leben kippt, als seine Mutter während eines Spaziergangs Liliput trifft, die Oberaufseherin des Zwangsarbeiterlagers, in dem sie im letzten Jahr des Zweiten Weltkrieges gefangen gehalten wurde. Daraufhin verfällt Klara in einen schockstarren Zustand.

Um sie aus ihrer Lethargie zu holen, fordert Leon sie nachdrücklich auf zu schreiben. Auf dünnes Luftpostpapier notiert Klara sodann ihre Geschichte: im Ghetto Zamość sind ihre Eltern und sie, 15 Jahre alt, von Deportation bedroht. Dem Vater, einem Schuhmacher, gelingt es, seine Tochter bei einem befreundeten Kollegen unterkommen zu lassen. Doch anstatt dauerhaft versteckt zu werden, trifft Klara auf Übergriffigkeit und Habgier. Nach einigen Zwischenstationen findet sie Unterschlupf bei einer Freundin, die ihr Arbeit als Kellnerin verschafft. Als sie einen SS-Offizier bedient und sie sich gegen seine Avancen wehrt, entschlüpft ihr ein jiddisches Wort, das sie verrät. 1944 lernt sie im Zwangsarbeiterlager Sackisch die Oberaufseherin Liliput kennen.

Auch Leon ist ein ehemaliger Lagerinsasse, der einzige Überlebende seiner polnischen Familie. Nachdem ihn die Amerikaner in Halle befreit haben, kehrt er nach Polen zurück und schlägt sich mit illegalen Geschäften zwischen Deutschland und seinem Heimatland durch. Wegen der dortigen antisemitischen Aktionen entschließt er sich, in Deutschland zu bleiben. Mit seinen Liebhaberinnen ist er nicht wählerisch, bevor er auf Klara und ihre Freundin trifft. Da er nicht weiß, wen von den beiden er heiraten möchte, lässt er einen Münzwurf für sich entscheiden.

Minka Pradelski hat ihren Roman in sechs Sequenzen organisiert, deren Hauptstrang die Zeit von Heiligabend 1946 bis Herbst 1948 umfasst. Im Zuge des alternierenden Erzählens bleibt Bärel in der Gegenwart, Klaras Bericht ist weitestgehend analeptisch, wohingegen Leons Perspektive auf die Ereignisse zu etwa gleichen Teilen Gegenwart und Vergangenheit in sich vereint. Das erste und das letzte Wort hat Bärel.

Weder sind die einzelnen Sequenzen stringent durchkomponiert noch sind die Charaktere in ihrer Breite und Tiefe elaboriert. Dennoch bewegt sich der Text in hoher atmosphärischer Dichte, vor allem dann, wenn sich die Wirkmächtigkeit der vergangenen Ereignisse manifestiert. Zentrale Bedeutung erhält das Flashback Klaras, ausgelöst durch die Stiefel einer kleinen schwangeren Frau, die sie als Liliput identifiziert. Auf Leons und Klaras Ehe, weniger aus Liebe denn vielmehr aus einer diffusen Aufbruchstimmung heraus geschlossen, lastet die Vergangenheit in all ihrer Massivität. Klara ist zunächst nicht imstande, ihren Mann mit seinem Vornamen anzusprechen, für sie bleibt er Herr Bromberger. Sie seien ein Paar, so dieser, doch jeder sei für sich und in ihrer Einsamkeit gehörten sie zusammen.

Als Klara nach der Begegnung mit Liliput in einer absoluten Starre verharrt, erinnert sich Leon an einen Liebesbrief, den er von einem befreundeten Lehrer erhalten hat, eine Art Gefühls-Passepartout, in den nur noch Klaras Name eingesetzt werden muss. Nicht eine tief empfundene Emotionalität gebiert also die allmählich wachsende Zuneigung, es ist eher ein Prozess der Adaption an ein Modell des Fühlens, das sich aus dem Brief ergibt. Nach dem Freeze braucht es zuerst eine Verschriftlichung, auf deren Grundlage Gefühle entstehen können. Klara, der man fünf entscheidende Entwicklungsjahre ihres Lebens geraubt hat, ist zwar eine autarke und starke junge Frau, vor allem jedoch entwurzelt und psychisch aufgelöst. Erst wenn sie die Splitter ihres Ichs wieder zusammenfügen kann, ist sie in der Lage, das Wagnis einer Zukunft mit ihrer kleinen Familie einzugehen. Klaras offensichtliche Traumatisierung findet ein Pendant in den extremen nächtlichen Schwitzattacken, unter denen Leon leidet.

In die Identitätskonstruktion der Eltern schwappt die irritierende Perspektive des Säuglings hinein, der als Einziger den Überblick hat. Als Lichtgestalt der Hoffnung wirkt Bärel hypertrophiert und zusammenmontiert aus diversen literarischen Einflüssen. Mit seiner Hochbegabung und Kompetenz ist er fantastisch, erinnert z.B. an Oskar Matzerath aus Die Blechtrommel oder an das Märchen Riquet mit dem Schopf. Trotz seiner Megabegabung kann er nichts von der Schoa wissen, wohl aber, dass mit seiner Mutter irgendetwas nicht in Ordnung ist. Die Kind-Eltern-Rollen invertierend, bemerkt er, dass der „starke Krabeiski“ gefragt sei, der „Mutter beschützen und auf Vater achten“ müsse.

Als Zeichen der Hoffnung lässt sich ebenfalls Klaras überbordende Mütterlichkeit deuten, ihr Zuviel an Milch evoziert den symbolischen Gegenpart der „schwarzen Milch der Frühe“, der sie nur entgehen konnte, weil sie für die Zwangsarbeit in der unterirdischen Flugzeugfabrik ausgewählt wurde. Zur Niederschrift zwingt sie sich einzig und allein für ihren Sohn, für ihn habe sie sich „das Herz aus der Brust gerissen“ und nächtelang geschrieben.

Während seine Eltern durch ihr beschädigtes Dasein irrlichtern, immer wieder in das Vergangene hineinkatapultiert werden, geschwächt und hilflos wie kleine Kinder, ist ihr Sohn Bärel resilient und zukunftsgerichtet. Er, der alles Reine, Lichte und Gute, aber auch verwegene Stärke verkörpert, kontrastiert aufs Schärfste mit Mechthild Töffler alias Liliput, besser noch Lilith.

Die lange Ahnenreihe der Teufelin in Gestalt einer schönen Frau erreicht mit Pradelskis Darstellung eine Klimax des Perfiden: hier agiert eine skrupellose SS-Frau, die die Lagerinsassinnen fassadär gönnerhaft als „meine lieben Kinderchen“ apostrophiert und sie zugunsten der von ihr veranstalteten rauschenden Feste hungern lässt. Ganz Femme fatale vergnügt sie sich nach ihren Gelagen meist mit mehreren Männern. Im Allgemeinen kommt Liliputs Sadismus eher subtil daher, als Zynismus im Kleinen, getarnt als Freundlichkeit, mit der sich letztendlich eine abgrundtiefe Inkongruenz offenbart. Auf diese Weise werden die Frauen im Lager verunsichert, demoralisiert und reifiziert. Mit den vordergründig verhaltenen, dafür umso wirksameren Mechanismen des Grausamen geht ein tendenziell einfacher und schmuckloser Schreibstil einher, der die Desillusionierung der Charaktere spiegelt und mit der energischen Symbolkraft des Antithetischen opponiert. Liliput und Bärel – Vergangenheit und Zukunft, das Böse und das Gute, wobei sich das Böse hinterrücks auf leisen Sohlen anschleicht und sich das Gute „kratzend, beißend, kickend“ und in frontaler Offenheit nähert.

So wie Pradelskis Eltern, die mit ihrer kleinen Tochter nach Amerika emigrieren wollten und nach einer kurzen Zwischenstation in Montreal wieder nach Deutschland zurückkehrten, bleiben auch Klara und Leon mit Bärel im Land der Täter*innen. Wenn sie sich im gegenwärtigen Nebel zwischen Vergangenheit und Zukunft eine neue Existenz konstruieren, müssen sie damit rechnen, immer wieder auf NS-Verbrecher*innen zu treffen. Doch nicht nur mit ihnen müssen sie sich konfrontieren, auch mit der Tatsache des eigenen Überlebens, das sie gleichermaßen als Chance auf Zukunft und als Schuld an den Opfern empfinden.

Mit im Zentrum des Romans steht Klaras Rede- bzw. Schreibkur und damit die Anstrengung, das Teuflische mit Worten zu bannen, um auf dieser Basis den existenziellen Neustart riskieren zu können. In Klaras Geschichte scheint die Essenz einer Myriade von Schicksalen auf. Leon, der seine Frau nachdrücklich dazu drängt, zu schreiben, glaubt an die ursprüngliche Kraft der Worte: „Verpass Liliput den Todesstoß.“ Im Verlauf der kathartischen Schreibkur darf es wieder Tag werden, denn die Schrecken der Nacht fließen auf das Papier. Somit werden sie erträglich und lenken den Blick auf die Zukunft, sind aber insofern ambivalent, als die Erinnerung bestehen bleiben muss und dieser Imperativ für die Betroffenen retraumatisierend sein kann. In diesem Sinne reflektiert Pradelskis Roman Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit dem Unsagbaren, tut das auf tastende, vorsichtig austarierende Weise. Gänzlich uneuphorisch und aus der Perspektive Bärels auch nicht unbefremdlich lässt sie Es wird wieder Tag mit Akzenten der Hoffnung ausklingen.

Titelbild

Minka Pradelski: Es wird wieder Tag.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2020.
384 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783627002770

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