Ein Bilderbuch, ja, aber für Kinder?

von | 24.11.2020 | Bilderbücher, Buchpranger

Alexandra Helmig erzählt im Bilderbuch „Der Stein und das Meer“ von der Sehnsucht nach dem Unbekannten und von Heimweh – mit Illustrationen von Stefanie Harjes. Zeichensetzerin Alexa hat das Bilderbuch mit gemischten Gefühlen gelesen und betrachtet.

Ein grüner Stein namens Sören lebt auf einem großen Felsen, der sich im Meer befindet. Von dort aus kann er viel beobachten: die Tiere, die im Meer und am Strand sind, und Dinge, die ans Ufer gespült werden; eine Flasche, eine Tasse, ein Schuh. Sören ist neugierig und fragt sich, woher all diese Dinge kommen. Er sehnt sich danach, ins Meer zu gelangen, in das unbekannte, verheißungsvolle Meer, das so viele Schätze besitzt.

Als er nach langem Warten dank einer hohen Welle ins Meer fällt und eine Weile dort verbringt, bekommt Sören Heimweh. Wie soll er nur nach Hause kommen? Wie schafft er es wieder zurück auf den Felsen? Es vergeht sehr viel Zeit, bis er von einem Mädchen gefunden wird, mit dessen Hilfe er wieder auf den Felsen gelangt.

Machtlos, ausgeliefert, abhängig

Eigentlich ist das eine schöne Geschichte über das Unbekannte, das faszinierende Neue, über die eigenen Wurzeln und die Frage nach Identität und Heimat – wäre da nicht das fragwürdige Ende: Wie schafft es das Mädchen, den Stein so zu werfen, dass er auf dem Felsen landet, statt daran abzuprallen? Ist das eine logische Konsequenz? Besitzt das Mädchen neben der Gabe, Dinge zu finden, „die gefunden werden wollen“, die Fähigkeit, Dinge an den Ort zu bringen, an den sie sich wünschen? Die verklärt glorifizierende Sicht auf die Mutter und ihre Tochter, die auf mystifizierende Art den Stein „retten“, hinterlässt einen faden Nachgeschmack.

Der Ausgang der Geschichte bestärkt das Gefühl von Ohnmacht; Ein äonenalter denkender Stein, der den Namen Sören bekommt (von wem eigentlich?), ist nicht in der Lage, sich selbst zu helfen. Er ist angewiesen auf Andere, die ihn ans Ziel bringen. Und am Ende wird er nur beachtet, weil er als schöner, grüner Stein zwischen anderen hervorsticht. Was möchte dieses Buch den Leser:innen mitteilen? Dass nur durch Zufall, Glück und Schönheit das Ziel erreichbar ist?

Text-Bild-Widerspruch

Vielleicht sollte dieses Bilderbuch nicht als Buch für Kinder betrachtet werden. Die Botschaften sind nicht gerade pädagogisch wertvoll, und die Illustrationen aus grober Collage und chaotischem Kohlegekrakel eher verstörend als ansprechend. Man sieht menschliche Köpfe auf Tierkörpern, sowie einzelne Gliedmaßen, die wild umhergeschleudert werden und ähnlich Makabres. Möglicherweise wären die Fantasiefiguren weniger gruselig, wenn sie komplett gezeichnet worden wären. Die Mischung aus ausgeschnittenen Bildern und Zeichnung lässt die Gliedmaßen jedoch unzusammenhängend wirken, wodurch Assoziationen mit Horrorgeschichten geweckt werden.

Bild und Text scheinen auch nicht immer zusammenzupassen. Im Text ist der Stein grün, in den Illustrationen wird er eher gelb dargestellt. An einer anderen Stelle heißt es: „Ich möchte ins Meer, ruft er dem Wind zu. Immer und immer wieder, bis seine Worte fliegen lernen.“ Auf der doppelseitigen Illustration wird ein fliegender, beinloser Vogel auf einem Stein dargestellt. Ist das Sören? Wird er gleich vom Vogel ins Meer geworfen? Gelangt der Stein so ins Wasser? Auf der nächsten Seite werden diese Gedanken weggewischt, denn nun geht es um einen Sturm: „Der Wind jagt meterhohe Wellen übers Meer, eine davon reißt Sören vom Felsen und schleudert ihn ins Wasser.“

Zu viel Bildgewalt?

Bilderbücher wie dieses lassen mich über Kunst für Kinder nachdenken und ob Illustrationen nicht auch zu „ungefällig“ sein können. Selbstverständlich sollten Kinder an verschiedene Kunststile herangeführt werden, doch es sollte auch im Blick behalten werden, dass sie noch kein Hintergrundwissen zu Kunst mitbringen und diese daher völlig anders wahrnehmen und bewerten. Das ist nicht ausschließlich eine Frage der Subjektivität: Die Vorlieben sind verschieden, aber anders als Erwachsene erfassen Kinder Bilder eher intuitiv. Ist es da sinnvoll, ein Bilderbuch in einem finster-dadaistisch anmutenden Stil zu gestalten?

„Der Stein und das Meer“ wirkt in Text und Bild anders als viele andere Bilderbücher und damit auch besonders. Fraglich ist nur, ob das Bilderbuch für Kinder geeignet ist. Dies ließe sich nur durch gemeinsames Vorlesen und Betrachten herausfinden. Aufgrund des düsteren Stils würde ich jedoch vorher individuell abwägen, ob es zum Kind passt, anstatt der Altersempfehlung vom Verlag (ab 4 Jahren) gedankenlos zu folgen.

Der Stein und das Meer. Text: Alexandra Helmig. Illustrationen: Stefanie Harjes. Mixtvision Verlag. 2020.

 

Bücherstadt Magazin

Bücherstadt Magazin

Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Wir sind umgezogen!

Wir sind kürzlich umgezogen und müssen noch einige Kisten auspacken. Noch steht nicht alles an der richtigen Stelle. Solltet ihr etwas vermissen oder Fehler entdecken, freuen wir uns über eine Nachricht an mail@buecherstadtmagazin.de – vielen Dank!

Newsletter

Erhaltet einmal im Monat News aus Bücherstadt. Mehr Informationen zum Newsletter gibt es hier.

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner