Trumps Vorbild

In seiner Biographie stellt Bernd Greiner dem Außenpolitiker „Henry A. Kissinger“ ein verheerendes Zeugnis aus – und nicht nur ihm

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum, so mag man sich fragen, eine Biographie über den amerikanischen Außenminister der Jahre 1973 bis 1977 jetzt und heute? Hat es nicht im vergangenen halben Jahrhundert ebenso bedeutende, wenn nicht größere Politiker gegeben? In der Arbeit von Bernd Greiner, Hamburger Professor i.R. für außereuropäische Geschichte, schälen sich drei Begründungen heraus: Einmal verfügt der 1923 als Heinz-Alfred Kissinger in Fürth Geborene über eine biblische Lebenskraft, die ihm bis in die Gegenwart ein wirkungsmächtiges öffentliches Auftreten ermöglicht. Zweitens, und in dieser Einschätzung wird bereits die Distanz, wenn nicht die Antipathie des Biographen gegenüber seinem Protagonisten überdeutlich, ist das Publikum immer „scharf darauf, ein Monster zu sehen“, und nicht zuletzt erinnern Kissingers lebenslange Positionen, das sei gleich vorweg gesagt, in fast erschreckender Aktualität an die des amerikanischen Präsidenten Donald Trump, der allerdings und trotzdem nur an wenigen Stellen des Buches genannt wird. Greiners Text ist daher auch weniger eine pralle Lebensbeschreibung als über weite Strecken ein großer politischer Essay, der Fehlentwicklungen der Vergangenheit analysiert, die bis in die Gegenwart wirken. Lebendes Demonstrationsobjekt ist ihm dabei also der Politiker Henry Kissinger.

Nachdem der jüdischen Familie Kissinger 1938 gerade noch rechtzeitig die Flucht in die USA geglückt war, erkannte Henry alsbald, dass das Ankommen auch und vor allem eine mentale Leistung darstellte. So übernahm er eine Erkenntnis der Verhaltenspsychologie, wonach das Überleben durch Anpassung an den Stärkeren gewährleistet wird, was in seinem Fall allerdings zu einem skrupellosen Opportunismus führen sollte. Weitere Erkenntnisse der Psychologie machte sich Kissinger während seiner Armeezeit (1944–1946) und danach zu eigen als Spezialist für psychologische Kriegsführung.

Ab 1947 geriet er als Absolvent von Harvard sodann mitten in die Parallelwelt politisierender Professoren, die während der Anfangsjahre des Kalten Krieges großen Einfluss auf die amerikanische Politik gewannen, indem sie die Doktrin vertraten, dass Amerika zwar den Krieg gegen Hitler-Deutschland gewonnen habe, aber jetzt in Gefahr gerate, die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus zu verlieren. In diesem Zusammenhang verwiesen sie auf den Fehlschlag jeglicher Appeasement-Politik, etwa gegenüber der Rheinlandbesetzung 1936 und während des Münchner Abkommens 1938. Sie drängten außerdem darauf, den momentanen Vorsprung in der atomaren Bewaffnung auch militärisch zu nutzen.

Unter den Studierenden der Politikwissenschaft fand sich Kissinger durch seine überlegene Intelligenz in einer gewissen Außenseiterrolle wieder, nicht aber bei seinen akademischen Lehrern, die er 1954 mit einer Dissertation über Metternich und den Aufbau einer europäischen Friedensordnung nach den Napoleonischen Kriegen beeindruckte. Allein als Literaturbericht angelegt, ging es Kissinger darum, nachzuweisen, dass das revolutionäre und daher anarchische Frankreich nur durch eine überlegene Macht zu bändigen und das Weltgleichgewicht zu stabilisieren war. Damit traf er exakt die Einschätzung seines Lehrers William Elliot, wonach „der rote Totalitarismus bei weitem gefährlicher war als der braune“, weil „die Herrscher der UDSSR sich erst sicher fühlten, wenn sie sich die ganze Welt einverleibt“ hätten.

In den Kreisen der Harvard-Intellektuellen war man sich einig, dass die besten Chancen zur Eindämmung des Kommunismus bereits vertan seien. „Wir müssen doch der Tatsache ins Auge sehen, dass der sowjetische Expansionismus sich gegen unsere Existenz richtet, nicht gegen unsere Politik.“ Mit der radikalen Logik, wonach es „für Amerikaner wichtigere Dinge gebe als das Leben“, ignorierte man mögliche Opfer und manövrierte sich schließlich in einen paranoiden Erregungszustand, der zur Leitlinie des Kalten Krieges wurde.

Der Biograph verfolgt nun den steilen Karriereweg des Musterstudenten Henry Kissinger: Organisation von Sommerseminaren zur Förderung der transatlantischen Beziehungen, in denen er unter anderen auch der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann nahekam, Mitarbeiter einer von Nelson Rockefeller initiierten Studie „Psychologische Aspekte einer Zukunftsstrategie der USA“, die vor allem die Anwendung taktischer Atomwaffen empfahl. 1957 festigte er mit dem Buch Kernwaffen und Auswärtige Politik endgültig seine akademische Position und reihte sich ein in den Chor der Kalten Krieger, die den begrenzten Einsatz von Atomwaffen als probates Mittel der Politik propagierten. Greiner dekonstruiert Kissingers Veröffentlichungen indes als ziemlich heiße Luft und den Autor selbst, der sich zwischenzeitlich auch dem jungen amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy als Mitarbeiter andiente, allerdings vergeblich, als hemmungslosen Opportunisten und „Diener aller Herren“.

Dessen große Stunde jedoch kam mit dem Aufstieg Richard Nixons. Obwohl Kissinger von ihm sagte: „Dieser Mann ist für das Amt des Präsidenten untauglich“, wurde er 1968 in das Amt des „Nationalen Sicherheitsberaters“ und damit ins Zentrum der Macht berufen, deren Reize er wie einem Narkotikum erlag.

In diesem, dem gewichtigsten Teil der Biographie, tritt das Verhältnis zwischen den beiden Männern Nixon und Kissinger naturgemäß in den Vordergrund. Als Quellengrundlage dienen hier vor allem die berühmten White-House-Tapes, deren Veröffentlichung Nixon lange Zeit verhindern wollte. Insgesamt offenbaren die Tonbandmitschnitte ein derart vulgäres sprachliches Niveau, das auch die krasseste RTL-Sendung locker unterbietet. Politisch reden sich die beiden im Oval Office in einen permanenten Ausnahmezustand, der sie zu Gegnern des demokratisch dominierten Kongresses macht, dessen Funktion und Kontrollaufgabe sie durch vielfältige Tricks und Intrigen untergraben.

Als weitere Feinde werden die Presse und die intellektuellen Eliten des Landes ausgemacht, denen man Verschwörungsbestrebungen unterstellt. Stattdessen beruft sich Nixon auf die sog. „schweigende Mehrheit“, die ihm schließlich sogar zur Wiederwahl verhilft. Selbst dem manifesten Antisemitismus und Rassismus Nixons kann Kissinger paradoxerweise einige Berechtigung abgewinnen. Bereits nach einem Jahr ist nebenbei der größte Teil der Mitarbeiter der Administration wegen kritischer Äußerungen aus ihren Ämtern entfernt.

Für den deutschen Leser besonders interessant sind auch die Schlaglichter auf die Außenpolitik der Bundesregierung unter Willy Brandt. Nicht nur, dass der Außenminister und spätere Bundeskanzler ebenso wie sein Berater Egon Bahr mit den übelsten Schimpfwörtern bedacht werden; den Männern im Weißen Haus, die in ihrem „wahnhaft bipolaren Denken“ gefangen waren, musste die Politik des Wandels durch Annäherung und des Helsinki-Prozesses wie das Aufgeben von Handlungsmacht erscheinen. Kissinger entwickelte die Unberechenbarkeit geradezu zur Maxime und stilisierte den Präsidenten zum „Verrückten im Weißen Haus“, gegenüber dem die Diktatoren und Autokraten dieser Welt eine gewisse strategische Vernunft an den Tag legten. In Europa mussten diese Kindereien scheitern, so dass die US-Regierung dem KSZE-Prozess, den fast alle westlichen Verbündeten unterstützten, notgedrungen zustimmte und sogar als eigenen Erfolg verkaufen konnte.

In Asien spielte eine andere Entwicklung den US-Strategen in die Hände: Wie viele andere glaubte auch die US-Regierung in Vietnam an die Wirksamkeit der Domino-Theorie für den Fall, dass man dem südvietnamesischen Regime die Unterstützung entzog. Sie erkannte nicht, dass sich hier vor allem ein Prozess der Entkolonisierung vollzog, der in ganz Vietnam und darüber hinaus viele Anhänger fand. In dieser Situation kam der sich verschärfende Konflikt zwischen der UDSSR und China gerade recht. Mao signalisierte einige Bereitschaft, den USA einen gesichtswahrenden Abzug aus Vietnam zu ermöglichen. Greiner unterstellt jedoch, dass Kissinger durch die Bombardierung Nordvietnams und Kambodschas und durch das Hinauszögern der Pariser Friedensverhandlungen bestrebt gewesen sei, die Patt-Situation zum Vorteil der Amerikaner so lange wie möglich aufrechtzuhalten.

Tatsächlich sah sich Kissinger, 1973 neben seinem Amt als Sicherheitsberater nun auch endlich in das Amt des Außenministers berufen, als Meister der Manipulation und, nachdem Nixon durch Watergate immer mehr in die Defensive geriet, auch auf dem Höhepunkt der persönlichen Macht. Die Welt wurde ihm zur Bühne, von der ihn selbst Gerald Ford als Nachfolger des zurückgetretenen Nixon zunächst nicht zu vertreiben vermochte. Ethik, Moral und Recht treten immer mehr hinter die Parole „America first“ bzw. die Realpolitik nach Kissingers Fasson zurück, die ganz der Maxime gehorchte: „Das nationale Interesse ist bisweilen wichtiger als das Gesetz.“

Allerdings betont Greiner, dass Kissingers Gegenspieler in Moskau und Peking das falsche Spiel längst durchschaut hatten und diese Erkenntnis für sich zu nutzen wussten. Der Fall kam dann ziemlich rasch, nachdem die desaströse US-Politik in Mittel- und Südamerika nicht nur in der Dritten Welt auf Unverständnis und Gegenreaktionen stieß und sogar Ronald Reagan und große Teile der Republikaner auf die „Vorstellung eines globalen Gemeinwohls“ und die Wirkungskraft vertrauensbildender Maßnahmen wie die Rüstungskontrollvereinbarungen setzten.

Als Privatmann spielte Kissinger nach einigen ungelenken Anfangsversuchen die Rolle des „everybody’s darling“, geschickt auf dem internationalen Parkett als „Strippenzieher“ changierend zwischen Kassandra und Friedensnobelpreisträger. Diese Rolle spielt der fast Hundertjährige bis heute, auch wenn die Dokumente die verbrecherischen Verstrickungen des selbsternannten Meisterdiplomaten in diverse Terrorregime, wie etwa das Chile Augusto Pinochets, zweifelsfrei beweisen. In seiner auf drei voluminöse Bände angewachsenen Autobiographie verkoche der Pensionär Kissinger, so der Biograph, die bewährte Mischung von Halbwahrheiten und Denunziationen mit dem Ziel, „den Leser ins Koma zu schreiben.“

Greiner ist eine sehr lesenswerte Biographie gelungen. Sie verrät neben stupenden Kenntnissen der amerikanischen Politik und der Quellen eine treffende Urteilsfreudigkeit, die nicht jedem gefallen wird, der in dem heutigen Kissinger den netten alten Mann sieht. Der bisweilen feuilletonistische Stil hebt sich wohltuend von den ausgiebig zitierten Gesprächsprotokollen des Weißen Hauses ab und macht die Lektüre zu einem spannenden Vergnügen.

Wenngleich es angesichts eines inzwischen abgewählten Präsidenten, der seine narzisstische Persönlichkeitsstörung zu einem Stresstest der amerikanischen Demokratie auslebt, immer nützlich ist, einmal zurückzublicken auf Vorgänger, vergangene Krisen und Skandale, die, so Greiner, „in den USA bis heute ihresgleichen“ suchen, so bleibt doch ein Unterschied anzumerken: Unter Nixon und Kissinger sah sich Amerika immerhin als Führungs- und Ordnungsmacht des westlichen Bündnisses, dessen Stärke es zu bewahren galt. Dazu trugen auch die unzähligen persönlichen Begegnungen und Bindungen des Netzwerkers Kissinger, etwa zu Helmut Schmidt, entscheidend bei. Es ist also zu hoffen, dass der gegenseitige Respekt in der Wertegemeinschaft des Westens wieder mehr an Bedeutung gewinnt.

Titelbild

Bernd Greiner: Henry Kissinger. Wächter des Imperiums.
Verlag C.H.Beck, München 2020.
464 Seiten , 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783406755668

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